Unser Autor Peter Glaser ist der Ansicht, dass es ein bedeutendes Menschenrecht ist, ein Gerät einfach abschalten zu können.

Stuttgart - Die indische Göttin Kali gibt das Inbild eines technikgehetzten Menschen ab. Sie wird als zehnarmiges Wesen dargestellt, die Haut ganz blau – womöglich vor Überanstrengung – und mit einem dritten Auge auf der Stirn, um sich auch dann nichts entgehen zu lassen, wenn das herkömmliche Augenpaar zwinkert. Im Englischen gibt es für dieses moderne Phänomen das Kürzel FOMO. Es steht für „Fear of Missing Out“ – die Angst, etwas zu versäumen.

 

Jeder Heranwachsende kennt das Gefühl, dass ausgerechnet da, wo man sich gerade befindet, komplette Ödnis herrscht und das Leben irgendwo in der Entfernung vorbeirauscht. Außerdem versucht er, sich alle Möglichkeiten offenzuhalten, um sowohl Lokomotivführer als auch Reitstallbesitzerin wie auch Astronaut werden zu können. Dann ist man erwachsen, und was passiert? Der kindliche Rausch der Möglichkeiten holt einen mit neuer, technisch verstärkter Wucht wieder ein.

Ungeheure Vielfalt an neuen Informationsquellen

Computer und Internet eröffnen einem nicht einfach nur eine ungeheure Vielfalt neuer Informationsquellen und Handlungsmöglichkeiten. Die Techniken reißen uns mit. Schon die Hardware sorgt dafür, dass alles fließt. Der Zwang zum Eingeschaltetsein nimmt stetig zu. Das Standby-Zeitalter glüht uns mit seinen roten LED-Augen an. Bald werden Maschinen keinen Ausschaltknopf mehr haben, sondern nur noch eine Reißleine – und die wird nur ein einziges Mal zum Start gezogen, worauf der Apparat immerfort läuft.

Ich bin der Auffassung, dass der Ausschaltknopf als ein bedeutendes Menschenrecht gewahrt bleiben muss. Wie sehr uns dieser Knopf bereits ausgetrieben worden ist, zeigt das Smartphone. Zwar verfügt es noch über einen Ausschaltknopf, aber die psychologische Belastung, die das Ausschalten mit sich bringt (angesichts der Möglichkeiten, was man alles versäumen könnte), ist immens. Das Nichtsofortchecken beim Ton einer eintreffenden Mail oder Facebook-Statusänderung ist für viele fast so schwierig geworden wie ein Morphiumentzug, denn der Mensch ist ein großes, dummes Gefühlstier. Er hofft, dass Keira Knightley ihn anruft, aber am anderen Ende ist dann doch wieder nur der nervige Torsten, der sich langweilt.

Helden, die einfach abschalten

Hier und da sind sie noch zu beobachten, die Helden, die einfach abschalten. Die Mehrheit wird vom „Always on“ vor sich hergetrieben. Online-Junkies, die sich ihre schleichende Abhängigkeit oft so lange nicht eingestehen, bis sie ausgebrannt sind. Manche, wie etwa die Professorin und Kommunikations-Koryphäe Miriam Meckel, schreiben dann ein Buch und breiten die Verwechslungsgefahr zwischen Leistungsbereitschaft und nimmersatter Arbeitsgier in Form eines weiteren Arbeitsanfalls aus.

„Mehr! Mehr! ist der Ruf einer im Irrtum befangenen Seele – weniger als alles befriedigt den Menschen nicht“, erkannte schon der Dichter William Blake. Genau wie beim Essen gibt es auch bei der Informationsaufnahme ein Sättigungsgefühl und, wenn man sich überfressen hat, ein virtuelles Völlegefühl. Sich dieses Gefühl bewusst zu machen, ist ein erster heilsamer Schritt.

Vor einiger Zeit baute ein Team der Event-Agentur „Matterhorn Experience‘‘ aus dem schweizerischen Zermatt auf 2300 Meter Höhe ein temporäres Luxusrestaurant für die Mitarbeiter eines Pharmakonzerns auf. Neben der Sterneküche genossen die Kunden besonders das stille Dasein im Funkloch. Es gab dort oben nun einmal keinen Mobiltelefonempfang. Anfangs waren noch manche nervös und suchten nach einem Netz. Aber nach einer Weile schalteten sie ab.