Wie kein zweiter hat der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger über viele Jahrzehnte das literarische Leben in Deutschland geprägt. Im Marbacher Literaturarchiv hat er nun ein Wiedersehen mit den Fünfzigerjahren gefeiert.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Für Hans Magnus Enzensberger selbst ist es ein Komposthaufen, für den Direktor des Marbacher Literaturarchivs, Ulrich Raulff, zählt es zu den schönsten und reichsten Erwerbungen seines Hauses: das Privatarchiv, das der Schriftsteller Marbach überlassen hat, eine Materialsammlung, in der sich in unzähligen Manuskripten, Korrespondenzen und Entwürfen das Geistesleben des letzten Jahrhunderts dokumentiert. Enzensberger nämlich, so Raulff, sei gewissermaßen die Ein-Mann-Literaturgeschichte der Bundesrepublik, nein, mehr als das: eine Ein-Mann-Weltliteraturgeschichte.

 

Mit dieser Verneigung begrüßt Raulff den Dichter am Mittwochabend dort, wo sein Komposthaufen nun gärt, um von kundigen Archivaren in seiner befruchtenden Kraft kultiviert zu werden. Und doch lebt Raulff seit dem bedeutenden Zugang in Angst. Als junger Mann nämlich, so gesteht er im brechend vollen Konferenzsaal des Archivs, habe er nach einem Schaubühnen-Besuch in Berlin eine glühend-begeisterte, jedoch erschütternd dilettantische Huldigung an den Autor des „Untergangs der Titanic“ verfasst. Immer wenn nun sein mit der Auswertung des Enzensberger-Schatzes betrauter Mitarbeiter Jan Bürger ihm die neuesten sensationellen Entdeckungen präsentiert, lasse ihm die Furcht, jenes peinliche Relikt könnte sich darunter befinden, das Blut in den Adern gefrieren.

In der untersten Schicht des archivalischen Komposts

Der mit allen Mitteln der Wertschätzung und Rhetorik so Umgarnte lächelt dazu spitzbübischer, als man es von einem Jahrhundert-Monument erwarten würde. Und auch wenn der 85-Jährige zu Beginn des Gesprächs mit Jan Bürger für sich Altersmilde reklamiert, die ihn nun im Rückblick etwa auch eine Figur wie Konrad Adenauer, „diesen Inbegriff eines autoritären Kanzlers“, mit gerechteren Augen betrachten lasse, eignet seiner Erscheinung eine verblüffende Zeitlosigkeit. Mit rotem Schal, kecken Pausbäckchen, hellwach funkelnden Augen begibt er sich entlang der Funde, die Bürger in Enzensbergers Münchner Keller aufgestöbert hat, auf eine Zeitreise, gewissermaßen in die unterste Schicht des archivalischen Komposts, in die fünfziger Jahre.

Ein alter Theaterzettel kündigt eine Aufführung der Erlanger Studentenbühne an: „,Harlekinade‘, inszeniert von Hans Magnus Enzensberger“. Wir begegnen einem jungen Mann, der in dem fränkischen Städtchen vor sich hin studiert, der vor allem viel Zeit hat und alles tut, dem muffigen Geruch einer unter die Decke gekehrten Nazivergangenheit zu entkommen. Zum Beispiel mit Theaterspielen. Schon die nächste Trouvaille, die Bürger präsentiert, deutet auf eine erstaunliche Entwicklung: Aus der Studentenbühne sind Internationale Theaterwochen geworden. „Cher Enzio“, beginnen Briefe, die der gerade einmal 25-Jährige von Größen des damals tonangebenden Absurden Theaters empfängt.

Dreistigkeit öffnet ihm alle Türen

Dreistigkeit, nennt Enzensberger als Grund, dass sich seine Arbeitsbeziehungen so rasch entwickelt haben. „Ich bin vor nichts zurückgeschreckt, habe sogar in Paris Albert Camus besucht.“ Amüsiert über sich selbst und die modischen Etiketten der Zeit erzählt er von den beiden Cafés, in denen die Häupter des Existenzialismus Hof hielten, hier Sartre, dort Camus. In einem Jazzkeller lernte er die schöne Muse der Bewegung, Juliette Gréco, kennen. Wäre Enzensberger ein Schelm und nicht einer der bedeutendsten Dichter des Jahrhunderts, könnte man diese beinahe märchenhafte Vergesellschaftung mit den glänzendsten Akteuren des intellektuellen Lebens für den Stoff einer wunderbaren Hochstapelei halten. „Nichts wie raus hier“ sei der einzige Wunsch gewesen, draußen war Paris, der „große Attraktor“. In der französischen Metropole begegnete er Paul Celan, einem „Mann mit feinen Antennen, der auf kleinste Ausschläge stark reagieren konnte“. Eine bittere Anekdote aus späteren Tagen erhellt, was einen aus Deutschland treiben konnte: Bei einem Besuch in Frankfurt wurde Celan auf der Straße unvermittelt mit „Saujud“ angepöbelt. „Das sagt viel über die Zeit – dass Celan später Selbstmord begangen hat, leuchtet ein.“

Dann Stuttgart. Enzensberger wurde Assistent von Alfred Andersch, der vor sechzig Jahren beim damaligen SDR die Reihe „Radio-Essay“ begründet hatte und damit einen Teil der deutschen Nachkriegsautoren vor dem Hungertod bewahrte. Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen, Martin Walser, viele Emigranten fanden hier ein Auskommen. Die kurioseste Begebenheit knüpft sich jedoch an ein Filmplakat: Der Stuttgarter Psychiater, Kunstsammler und Hobby-Regisseur Ottomar Domnick hatte ein avantgardistisches Werk gedreht, „Jonas“, und dabei die Tonspur vergessen. Darum bat er Enzensberger, sich einen Text einfallen zu lassen. Aus Geldnot willigte er ein. „Jonas“ wurde später mit Preisen überhäuft, als Script-Girl fungierte eine gewisse Gudrun Ensslin.

Peter Suhrkamp gefällt seine Physiognomie

Enzensbergers Durchbruch als Lyriker markiert der Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“ von 1957. Als zorniger junger Mann tritt er da in Erscheinung. Dass er als solcher aber gleich in der Suhrkamp-Loge Platz nehmen durfte, verdankt er weniger den trotzigen Versen als seiner Physiognomie. Das jedenfalls legt ein Brief des Verlegers Peter Suhrkamp nahe: Den Ausschlag, seine Gedicht zu veröffentlichen, habe ein Foto von ihm im „Spiegel“ gegeben.

Am Ende dieses Jahrzehnts ist der Mann mit dem außerordentlichen Gesicht mit der schreibenden Welt bestens vernetzt. Er übersetzt als einer der Ersten den chilenischen Dichter Pablo Neruda, wird von Ingeborg Bachmann zur Summer School nach Harvard eingeladen und gibt das „Museum der modernen Poesie“ heraus, einen Band mit über dreihundert Gedichten in 16 Sprachen, dessen gewaltiges Puzzlewerk in der neuen Marbacher Dauerausstellung zu bewundern ist.

Dass aus Abfall Neues entsteht, ist das Kredo eines Archivars wie Jan Bürger. Die papiernen Reste könnten einmal die Grundlage liefern, die Ideengeschichte der alten Bundesrepublik neu zu schreiben. Vielleicht wird man darin dann auch in einer Fußnote dem trunkenen Brief begegnen, den ein junger Bewunderer seinem Idol ins Herz gestammelt hat.