Die Wohnungsnot ist größer, die Mietpreise sind um ein Vielfaches höher, Immobilien kosten Mondpreise. Nun gibt es in Stuttgart erstmals wieder Hausbesetzer – doch wo ist die radikale Szene von einst?

Lokales: Wolf-Dieter Obst (wdo)

Stuttgart - Vorsicht, Kopf einziehen! Fast stoßen wir uns an der massiven Baustütze, die sich in Kopfhöhe quer durch die Wohnung spannt und an einer verrammelten Tür endet. „Nach Gebrauch aufessen“, steht drauf. Sehr witzig. Barrikaden aus Balken, Tischen, Blechen und Eisengittern machen das Gebäude Neckarstraße 79 zu einem unverdaulichen Bollwerk. Wir schreiben April 1989: Nach gut zehn Jahren Häuserkampf hat die Ära der Stuttgarter Hausbesetzungen ihren radikalen Höhepunkt erreicht.

 

Doch die Bewohner, die sich auf dem Klingelschild als „B. Setzer“ ausweisen, verlieren auch diese Schlacht. Mit Schneidbrenner, Kettensäge, Axt und Vorschlaghammer dringen weiß behelmte Polizisten in die Festung ein, danach begutachten Journalisten das Inventar und die Botschaften an der Wand: „Bullen, wenn ihr räumt, räumt auch eure Wachen, denn die werden brennen!“ Was folgt, ist eher eine Ironie der Geschichte. Nach dem Abriss steht heute an dieser Stelle das Innenministerium Baden-Württemberg, sozusagen oberste „B. Hörde“ der Polizei.

Vom Widerstand bleibt nur Feinstaub

Dort, wo einst ein „Besetzt“-Transparent im Wind flatterte, macht heute der Feinstaub Ärger. Das Neckartor gleich nebenan gilt als der Brennpunkt Deutschlands. Die Radikalität der Besetzerszene, der militante Kampf gegen Staat und für eine Gesellschaft mit Freiräumen – vom Winde verweht.

Verschwunden ist auch eine schwarze Fahne mit dem weißen Peace-Symbol, die Staatsanwalt Helmut Krombacher als Trophäe aus der Neckarstraße 79 mitnahm. „Die hing jahrelang in meinem Büro“, sagt der Mann, der für die Staatsschutzabteilung der Strafverfolger das Verfahren gegen die 21 Besetzer im Alter von 19 bis 39 Jahren führte. Die Behörde, die nur ein paar Hausnummern entfernt ebenfalls an der Neckarstraße liegt, hat er im Oktober 2014 in den Ruhestand verlassen. „Wo die Fahne jetzt ist, keine Ahnung“, sagt er.

Die Hausbesetzer – das seien ja nicht nur Wohnungssuchende gewesen. „Da waren alle möglichen Szenen aktiv“, sagt Krombacher. Punks, Antifa, RAF-Sympathisanten, Anarchisten. Alle fanden in der Wohnungsnot ein gemeinsames Betätigungsfeld. Vor allem 1981 brannte es an allen Ecken und Enden. Nicht nur symbolisch. In der Hospitalstraße in der Altstadt flogen im Oktober Brandsätze in das Büro einer Krankenversicherung, der ein besetztes Gebäude in der Reinsburgstraße gehörte. Dort hatte man von einer neuen „Bunten Fabrik“ als Kulturzentrum geträumt. Bis die Polizei anrückte.

Auch eine Schülerin will „Flagge zeigen“

Mindestens elf Gebäude sind im Laufe des Jahres 1981 besetzt worden. Mit dabei: Ariane, eine 18-jährige Schülerin. „Wir wollten Flagge zeigen“, sagt sie. Mit ihrem Freund gehört sie im Frühjahr 1981 zu den Besetzern in der Gerokstraße in Stuttgart-Ost. „Häuser dürfen nicht vergammeln“, sagt sie. Am Balkon hängt ein Transparent: „Spekulanten sind kriminell!“ Doch der damalige Polizeipräsident Eduard Vermander sieht das anders. Er spricht von einem „kriminellen Nest“, aus dem einige der Besetzer Straftaten verübten. Als die Polizei das Haus im Juni 1981 räumt, ist Gymnasiastin Ariane in der Schule. „Ich war enttäuscht, nicht dabei zu sein“, sagt sie, „ich wäre in den Knast gegangen.“ Vielleicht besser so: In der protestierenden Menge vor dem Haus kommt es zu Ausschreitungen. Die Polizei packt hart zu. Dabei geraten auch Unbeteiligte in den Mahlstrom. An der Front steht Manfred Gann, der Leiter des Amts für Wohnungswesen. Er versucht zu befrieden, bietet an, nach Ersatzwohnraum zu suchen. „Er hat sich verdienstvoll an die Front begeben, das hätte er eigentlich nicht müssen“, sagt Erhard Brändle, der 1989, dem Jahr der Neckarstraßen-Razzia, als Abteilungsleiter im Amt anfängt, ehe er Jahre später Ganns Nachfolger wird. Frontkämpfer Gann wird freilich auch selbst zur Zielscheibe der Kritik. Als Hausbesetzer im Dezember 1991 in leer stehende Wohnungen im Gebäude Schwabstraße 16b im Westen eindringen, wird offenbar, dass das Wohnungsamt über zehn Jahre lang den Leerstand toleriert hatte. Gegen die Eigentümerin, eine ältere Dame, war nicht wegen Zweckentfremdung ermittelt worden, weil diese ein Gutachten vorgelegt hatte. Beim Neubau einer benachbarten Bank seien 1978 massive Schäden entstanden. Im Streit über eine Entschädigung hat die Eigentümerin das Haus sich selbst überlassen – zur Freude der Hausbesetzer. 14 Monate werden sie toleriert. Dann gibt es Baupläne fürs Quartier und eine Flucht vermeintlicher Autoknacker ins Haus. Die Polizei räumt.

Amt toleriert Leerstand im Westen jahrelang

Für Ex-Amtsleiter Erhard Brändle, seit 2017 im Ruhestand, hat sich am Wohnungsmangel bis heute nichts geändert. „Das ist in den letzten zehn Jahren eher schlimmer geworden“, sagt er. Es gebe zwar geringfügig mehr Wohnungen. „Die Schere zur Anzahl von Einwohnern und Haushalten geht aber weiter auseinander“, sagt Brändle. Für ihn ist klar: „Ohne größere Baugebiete kann man das Problem nicht lösen.“ Baulücken nutzen, mehr Nachverdichtung in der Stadt – „das braucht Mut“.

Heri und seine Bewegung fühlten sich als Speerspitze

Mut – hatten die rebellischen Jungen damals mehr davon? Die aktuelle Hausbesetzung in Heslach, bei der zwei Kleinfamilien Ende April zwei Wohnungen in der Wilhelm-Raabe-Straße in Besitz genommen haben, ist die erste seit über zehn Jahren. „Wir wollten damals zwangloses und befreites Wohnen, ein neues Leben ausprobieren“, sagt Annette Ohme-Reinicke, heute Vorstandsmitglied der Anstifter und Philosophie-Dozentin, „diese Unbeschwertheit gibt es heute nicht mehr.“ Man sei schon extrem drauf gewesen, sagt Heri, ein damaliger Besetzer, der heute 58 ist. „Man hat das Gefühl gehabt, dass man die Speerspitze ist“, sagt er. Es sei interessant, dass alles ruhig ist, trotz verschärfter Wohnungssituation. „Aber heute ist die Jugend deutlich stromlinienförmiger.“ Allerdings räumt Heri ein, dass seine Besetzergeneration letztlich nichts geändert habe. „Das“, sagt er, „war doch utopisch.“

Doch es hatte was. Wie der Auftritt einer 24-jährigen Neckarstraßen-Besetzerin 1989 vor dem Amtsgericht. Sie soll einen Strafbefehl von Staatsanwalt Krombacher zahlen – stattdessen verliest sie eine Erklärung: „Wir wollen Auseinandersetzungen, die auf den Straßen stattfinden, nicht in den Gerichtssälen.“ Sagt’s, verlässt die Anklagebank und lässt die Richterin verdutzt zurück.