Elf Monate vor Olympia 2024 in Paris muss der Deutsche Leichtathletik-Verbandein historisches WM-Debakel ohne eine einzige Medaille aufarbeiten.

Die deutsche Leichtathletik hat in Budapest ein historisches Debakel ohne WM-Medaille erlebt. Brachten die Weltmeisterschaften vor einem Jahr in Eugene (USA) mit lediglich zwei Medaillen durch Malaika Mihambo (Gold) und die 4x100-Meter-Staffel (Bronze) bereits ein schlechtes Ergebnis, so war Budapest ein Fiasko für das Team um Kapitänin Gina Lückenkemper.

 

Mit dem vierten Platz des Speerwerfers Julian Weber, der nach Olympia 2021 in Tokio und der WM 2022 in Eugene zum dritten Mal als Viertplatzierter an Bronze vorbei warf und damit symptomatisch für die Entwicklung des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) steht, platzte zum Abschluss am Sonntag die letzte Hoffnung, und die Pleite für den DLV war perfekt. 46 andere Nationen holten Medaillen – selbst Burkina Faso, die Britischen Jungferninseln, Grenada oder Pakistan schnitten besser ab. Die deutsche Leichtathletik ist elf Monate vor den Olympischen Spielen 2024 in Paris am absoluten Tiefpunkt angekommen.

Zahlreiche Ausfälle

Der DLV hatte ein 70-köpfiges Aufgebot nach Budapest geschickt. Es fehlten freilich acht Leistungsträger wie Malaika Mihambo, Johannes Vetter oder Konstanze Kosterhalfen, es enttäuschten aber wieder zahlreiche Athleten und erreichten den Anspruch einer WM nicht. Stellvertretend dafür stehen die beiden Stabhochspringer Anjuli Knäsche (4,35 Meter) und Gillian Ladwig (5,35 Meter) oder der 200-Meter-Sprinter Joshua Hartmann, der statt den Durchbruch unter 20 Sekunden zu schaffen (bei den deutschen Meisterschaften in Kassel war er in 20,02 Sekunden knapp gescheitert) sein Finish verbummelte und mit 20,51 Sekunden sang- und klanglos im Vorlauf ausschied.

In den neun Tagen von Budapest ist die einstige Leichtathletik-Macht Deutschland endgültig zum Zwerg geschrumpft. Zwar stieg die Zahl der Top-8-Ränge von sieben auf 13 im Vergleich zur WM zuvor in Eugene. Aber selbst Werfer und Kugelstoßer, die einst zuverlässig lieferten, sind zurzeit zum Teil weit von der Weltspitze entfernt. Ehemalige Athleten, Trainer und Fans sind sprachlos und entsetzt ob dieser Entwicklung.

Deutlich im Hintertreffen

DLV-Präsident Jürgen Kessing (Bietigheim) sucht nach Erklärungen. „Wir sind gegenüber vielen anderen Ländern deutlich im Hintertreffen“, sagt er, „natürlich können wir mit diesem Abschneiden nicht zufrieden sein.“ Der Sport habe in Deutschland leider nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher. „Wir müssen mit klaren Konzepten an der Basis beim Schulsport ansetzen.“

Es ist längst mehr als ein Geheimnis: Der DLV hat an der Spitze auch personelle Probleme. Die Leichtathletik-Familie fordert seit geraumer Zeit Köpfe in der Spitze des Verbands. Ob Kessing den Willen und die Durchsetzungskraft dazu hat, bleibt abzuwarten. Er deutet immerhin Entscheidungen „nach anstehenden Beratungen“ an.

Isabelle Baumann (Tübingen), Bundestrainerin im Laufbereich und Ehefrau von Olympiasieger Dieter Baumann, geht in ihrer Analyse tiefer und sieht Gründe im gesellschaftlichen Bereich. „Wir haben ein gesellschaftliches Problem mit Leistung beziehungsweise Leistungssport, und wir müssen da im schulischen Sektor ansetzen. Die Ausbildung zum Sportlehrer hat an Stellenwert verloren, sie hat den Leistungsgedanken oftmals aufgegeben“, sagt die 60-jährige Sportlehrerin und ehemalige Mittelstrecklerin. „Es ist schwierig, den hohen Leistungsanspruch hier weiter zu vertreten.“

Beste Bedingungen in den USA

Die Tatsache, dass Athleten wie der Zehnkämpfer Leo Neugebauer mit Sportstipendien in die USA gehen und dort mit besten Bedingungen für Studium und Leistungssport Weltklasse werden, offenbart Schwächen in der Leistungsförderung hierzulande.

Dabei steht der DLV im Ranking der Verbände, was die Bewertung der Leistungsförderung und deren strukturelle Voraussetzungen anbelangt, auf Rang eins im Deutschen Olympischen Sportbund. Die Ergebnisse widersprechen dem. Offensichtlich wurde auch das EM-Sommermärchen 2022 in München mit 16 Medaillen überbewertet. Eine EM mit 49 Ländern und eine WM mit 202 Nationen sind verschiedene Welten; Geher Christopher Linke etwa wurde mit zwei deutschen Rekorden zweimal Fünfter.

Welche Konsequenzen wird der DLV aus dem Scherbenhaufen von Budapest ziehen? Es wird immer von strukturellen Änderungen geredet, getan hat sich aber bis jetzt nichts. Der neue DLV-Sportdirektor Jörg Bügner verweist darauf, dass bereits nach dem WM-Debakel von Eugene 2022 Reformen angestoßen wurden. Doch dies sei ein Langzeitprojekt. Der 54-Jährige beklagte die enorme Bürokratie im deutschen Sportsystem, die einmalig auf der Welt sei. „Wir werden die schonungslose Analyse, die wir nach Eugene begonnen haben, in den Gremien fortsetzen, wo wir auch mit externen Personen die Situation kritisch besprochen haben“, sagt Kessing. „Die Zielvorgabe lautet, dass wir bei Olympia 2028 in Los Angeles wieder unter den Top Fünf sind.“