22 Stunden James Joyce’ „Ulysses“: Der Südwestrundfunk feiert den Bloomsday mit einer ganz schön langen Lesung.

Stuttgart - Man muss sich ausliefern. Muss sich treiben lassen können, ohne zu wissen, woher und wohin. Ein bisschen wie Homers Odysseus sein, ja, mit der Sehnsucht nach der Heimat. Und das fällt schwer. Hand aufs Herz: wer hat James Joyce’ „Ulysses“ (Odysseus) nicht schon einmal angepackt und nach ein paar Dutzend Seiten in den Gedankenschleifen Stephen Dedalus’ verzweifelt wieder weggelegt? Dieses Meisterwerk der Moderne, das einen Tag in Dublin abbildet, das von Dedalus über Leopold Bloom bis zu dessen schlafloser Gattin Molly führt, von Figur zu Figur springt, alle tief verankert in der irischen Hauptstadt und dennoch oder gerade deshalb heimatlos? Dieser Tausend-Seiten-Roman, der vieles berührt, mit vielem spielt, was der Mensch und die Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts so alles aufnehmen können?

 

Man braucht, um keine Angst vor James Joyce zu haben, also a) Mut zum Selbstverlust und b): Zeit, viel Zeit. Denn als abendliche Bettlektüre, das heißt, „Ulysses“ in Häppchen, eignet sich das mit Fug und Recht monumental zu nennende Werk in der Übersetzung von Hans Wollschläger nicht. Nur, wenn man die Gelegenheit hat dranzubleiben, gerät man in den Sog dieses literarischen Monstrums – und wird über Tiefen und Untiefen dieses Joyce’schen 16. Juni 1904 hinweggetragen.

Die assoziativ mäandernden Gedanken

Diesen Sog will auch die Hörspieladaption, die der Südwestrundfunk und der Deutschlandfunk nun eingerichtet haben, entwickeln. 22 Stunden kann man sich am von Joyce-Fans alljährlich gefeierten „Bloomsday“, vom kommenden Samstag- bis zum Sonntagmorgen, auf dem Strom der Stimmen treiben lassen, durch die Straßen Dublins und die assoziativ mäandernden Gedanken Leopold Blooms (Dietmar Bär), Stephen Dedalus’ (Jens Harzer) und Molly Blooms (Birgit Minichmayr) und durch die Welt der literarischen Formen. Klaus Buhlert hat den im Jahr 1922 erschienenen Roman inszeniert, geordnet in 18 Kapiteln nach den Episoden der „Odyssee“, eine Einteilung, die Joyce selbst erst später verraten hat. Und der Hörspielregisseur hat dafür neben Bär, Harzer und Minichmayr viele weitere namhafte Schauspieler, die der Radiokunst zugetan sind, gewinnen können, den wunderbaren Josef Bierbichler etwa oder Corinna Harfouch.

22 Stunden vor dem Radio, das ist Luxus. Doch er lohnt sich, auch wenn dem einen oder anderen die Inszenierung zu traditionell, zu brav, zu hörbuchmäßig erscheinen mag. Manfred Zapatka als einer von insgesamt fünf Erzählern etwa liest solide und uneigennützig, bildet damit eigentlich die Folie für ein scharfes Profil der Figuren, beraubt aber den Text mit seinen von Wollschläger brillant übertragenen Wortschöpfungen ein wenig seiner Sprengkraft. Auch „Kinch, die Messerklinge“, wie die Figur Buck Mulligan seinen Kumpel Stephen Dedalus nennt, bleibt als Figur zunächst reichlich stumpf, obwohl gerade er die Welt gnadenlos seziert. Und mehr zeitgenössische akustische Unterstützung hätte man sich für die schonungslos ironischen Monologe, meist in den hohlen Raum gesprochen, für ein Hörspiel auch vorstellen können. Denn in Joyce’ Text schmerzen und amüsieren ja gerade die Dissonanzen der Welt, ein Text also, der für eine klangkünstlerische Unterstützung geradezu prädestiniert ist.

Okay, eine Frage des Geschmacks und der Interpretation, was soll’s. Der Bloomsday lässt sich vor dem Radio auf alle Fälle gut begehen. Und wer ihn noch nicht zu feiern gewillt ist, weil er an den literarischen Klippen des „Ulysses“ bisher gescheitert ist, wird sich durch das gewaltige Hörspielprojekt vielleicht künftig den 16. Juni für ein Gedenken an Leopold Bloom vormerken. Joyce’ Werk ist das Sitzfleisch wert.