Tief in Bad Cannstatt ist vieles besser, viel besser als man glaubt. StZ-Kolumnist Erik Raidt trifft bei seiner Stadt-Expedition ausgerechnet jenseits des Neckars einen, der mit Stuttgart-Symbolik Geschäfte macht.

Stuttgart - Manchmal lenkt mich die Stadt mit einem Verwirrspiel auf falsche Fährten. Ich sehe ein Stundenhotel und entdecke erst auf dem zweiten Blick, dass es sich um ein Studentenhotel handelt. Mich trifft beim Spaziergang die Schlagzeile „König Ludwig tot“ bis ins Mark, bevor ich bei näherem Hinsehen feststelle, dass die Bäckerei nur für „König Ludwig-Brot“ wirbt. Am Morgen beindrucken mich unter dem gewaltigen Schlot des Kraftwerks Münster mehr als ein Dutzend antike Säulen – bevor mir gerade noch rechtzeitig einfällt, dass dieses „Römerwunder“ in der Neuzeit entstand. Genauer gesagt während der Nazizeit. Die Travertinsäulen sollten Teil der neuen Welthauptstadt „Germania“ werden.

 

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie multimedial aufbereitet auch hier!

Von Münster aus gehe ich auf der zehnten Etappe meiner Stadt-Expedition Bad Cannstatt entgegen und der Gewissheit, alles nur falsch machen zu können. Der Bezirk ist viel zu groß für 80 Zeilen. Cannstatt? Der VfB und der Daimler, die Griechen und die schwäbischen Ureinwohner, der Kurpark und der Wilhelmsplatz. Und vieles mehr. Aber wo lande ich? Im Cannstatter Ruhrgebiet, zwischen der Duisburger, der Krefelder und der Remscheider Straße. Man sagt vorschnell Kleine-Leute-Viertel zu so einer Gegend, wenn man nur das Geld im Kopf hat. Auf den Klingelschildern stehen die Namen vieler Zuwanderer, im Afrika-Callshop treffen sich die Heimwehkranken, nebenan, beim Vietnamesen, wird auf der Terrasse geraucht.

Dennoch hat sich das „Ruhrgebiet“ meiner Heimatstadt seit meinem letzten Besuch verändert. Hier ein Neubau, dort frisch gestrichene Häuser, und Christian Lutter war damals auch noch nicht hier. Lutter, 34, lässt das Rollgitter vor seinem Laden an der Duisburger Straße ratschend hochfahren. Lutter macht Geschäfte mit dem Stuttgarter Lokalpatriotismus. Er stellt T-Shirts mit dem Rössle her, mit einem kunstvoll verfremdeten 0711-Logo oder mit einer Stadtsilhouette. Der Fernsehturm und das Riesenrad dürfen nicht fehlen. Vor drei Jahren ist Christian Lutter mit seinem Label „Herzschlag Stuttgart“ an die Duisburger Straße gezogen. „In einem anderen Viertel hätte ich Angst gehabt, Pleite zu gehen“, erzählt er, „aber hier war die Miete noch vertretbar und mein Vermieter war auch froh, dass mal ein ganz anderes Geschäft in der Gegend einzieht.“

Zu Beginn haben sie ein wenig miteinander gefremdelt: die Leute aus dem Arbeiterviertel und der Mann mit dem Szeneladen. Christian Lutter erinnert sich, wie ein paar ziemlich coole Jungs in sein Geschäft kamen und demonstrativ in ein paar Kisten herumwühlten. „Die wollten austesten, wie ich drauf bin“, erzählt Lutter und grinst. Inzwischen fühlt er sich mit seinem Laden am rechten Platz.

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Wenn nur der Verkehr nicht wäre. Ein paar hundert Meter von seinem Geschäft entfernt wird der Rosensteintunnel in den Hang getrieben. Vor dem Haupteingang der Wilhelma winden sich Auto-Herden zwischen Baggern, Absperrgittern, Bretterverschlägen und Baucontainern hindurch. Dort brüllen keine Löwen, es röhren nur die Lastwagen. Ich schaue dem Kesseltreiben zu, eine Stunde lang, mir fällt Alfred Döblin ein, „Berlin Alexanderplatz“. Aber auch mit dem Wahnsinn von „Stuttgart Rosensteintunnel“ bin ich restlos bedient.