Im Corona-Jahr stehen Weihnachtslieder unter Infektionsverdacht. Trotzdem gibt es Sangesfreude im kleinen Kreis.

Esslingen - Die Muse des Gesangs ist Corona nun wirklich nicht. Eher  die Agentin  verschämter Stimmbruch-Knaben und anderer Pubertierender jeglichen Alters und Geschlechts, denen es vor dem schönen, alljährlichen und viel belächelten Ritual graust: dem Singen unterm Weihnachtsbaum. Dieses Jahr ist es in kritischste Frage gestellt. Denn ob   sich in stiller Nacht mit schriller Macht    unfreiwillig  experimentelle Klangfolgen rauen  Kehlen entwinden oder ob mit  honigsüßem Bariton und   glockenreinem Sopran der   Schnee leise rieselt: Beträchtlich ist die potenzielle Virenemission so oder so. Gegen Emissionen hilft der   Katalysator, aber wer will schon durch die  Mund-Nasen-Maske singen? Auch versteht sich, dass man mit  dulci jubilo   der Oma allzu nah auf die Pelle rückt. Und dass man nach ein, zwei Liedern durchlüftet. Aber sonst? Was geht?  „Singen  sollte man nur mit den Menschen, mit denen man sowieso in einem Haushalt lebt. Die Aerosolbildung beim Singen ist hoch, deshalb am allerbesten  nach draußen gehen“,   rät  Vera Wienhausen-Wilke, Fachärztin für Innere Medizin und Lungenheilkunde am Klinikum Esslingen.
Ein paar schöne Töne im trauten Familienensemble dürfen also schon sein, zur Not auf dem Balkon.  Einer wie der Esslinger Star-Bass Cornelius Hauptmann, für den Singen das Leben ist, lässt es sich sowieso nicht nehmen, auch nicht von einer Pandemie. „Für mich gehört das Singen zu Weihnachten wie Stollen und Christbaumkugeln“, sagt er.  „Es schafft Atmosphäre und verbindet.“ Gesungen hat Hauptmann schon lange vor seiner Profikarriere – als Kind  zum Beispiel in der Silcherschule, die ihrem Namensgeber offenbar alle Ehre machte: „Da wurde jeden Tag gesungen“, erinnert er sich – und unschwer hört man durch, dass er sich das auch für heutige Grundschulen wünschen würde. An Weihnachten ging’s in der musikalischen Familie gleich fünfstimmig zur Sache, zum krönenden Abschluss wurde bei der Christmette in der Frauenkirche vom versammelten Hauptmann-Clan  „O du fröhliche“ geschmettert. Klar, dass er auch im Corona-Jahr  in kleinem Rahmen   Weihnachtliches anstimmt:   „Da kenne ich nichts.“  
Für Uwe Schüssler, evangelischer Bezirkskantor und Kirchenmusiker an der  Stadtkirche,  wird Weihnachten durch Corona paradoxerweise zur musikalischen Normalität verkehrt;    genauer: zur Normalität anderer Leute, denn bisher  hatte Schüssler  in den diversen Gottesdiensten „Hunderte von  Menschen zum Singen zu bringen“, wie er sagt. Und danach war ihm – bei aller Liebe zur Tradition  – eher nach Fondue als nach   hohem F  zumute, wie er freimütig einräumt. In diesem Jahr  mit den gemeindegesanglosen Feiern ist’s anders – nur findet eben auch das traditionelle Sangestreffen der Schüssler’schen Großfamilie   in den gottesdienstfreien Zeiten um  Weihnachten nicht statt.   Diesmal  bleibt’s beim allerengsten Kreis.
Bei dem aus den USA stammenden Esslinger Singebration-Chorleiter John Outland ist selbst der stark eingeschränkt. „Wenn wir bisher an Weihnachten gesungen haben, hat  immer mein Schwiegervater Klavier gespielt. Aber das geht jetzt auch nicht mehr.“ Der Chordirigent, der mit Erfolg Menschen in der ganzen Region zum Singen animiert, sieht die Notwendigkeit der Corona-Maßnahmen und  deren Kehrseite,  die menschlichen Folgen all der Be- und Einschränkungen:   „Der psychische Zustand wirkt sich auch auf die Gesundheit aus.“ Aber das weihnachtliche Singen   war für ihn schon immer  ein Hoffnungsschimmer, „eine der schönsten Sachen  hier in Deutschland“.    Und so wird sich der  Amerikaner in Esslingen, der in seinem Lieblingslied  „Stille Nacht“ eine „gewaltige frohe Botschaft“ hört,  seinen „Optimismus für die Zeit danach“ garantiert nicht vermiesen lassen
„Jeder wie er es mag“
Die Liebe zum größten aller Weihnachtshits verbindet Outland mit Michael Panzer alias Frl. Wommy Wonder. Für den Travestiekünstler und Kabarettisten wäre „Stille Nacht“ der Knüller unterm Christbaum, „weil es gerade davon international so viele Versionen gibt und das Lied auch von den ganz Großen interpretiert wurde.“ Wäre - denn Fräulein Wommy hat keinen Christbaum, „und wenn ich laut singe, fallen in der Nachbarschaft die Grundstückspreise. Also lasse ich es.“ Zur Tradition des weihnachtlichen Liedersingens hat der einstige Student der katholischen Theologie ein tolerantes Verhältnis: „Jeder wie er es mag. Wem die Tradition Freude bringt, der soll sie pflegen. Es fällt aber auch keiner aus der Gnade, wenn er es nicht tut.“