Der Ökonom Achim Wambach hat für die Kritik an den deutschen Exportüberschüssen Verständnis. Es spreche viel dafür, die Auswirkungen auf die Euro-Partnerländer zu berücksichtigen. Wambach hat auch konkrete Ideen, was man verbessern könnte.

Stuttgart - Deutschland steht international am Pranger, weil das Land Jahr für Jahr im Außenhandel immense Überschüsse verbucht. In Deutschland haben nur wenige Ökonomen Verständnis für diese Kritik. Eine Ausnahme ist Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Im Interview erläutert er, auf welche Weise Deutschland auf die Kritiker zugehen könnte.

 
Herr Professor Wambach, werden die hohen Exportüberschüsse in Deutschland überhaupt als Problem wahrgenommen oder dominiert hier die Haltung, dass uns das Ausland unsere Exporterfolge neidet?
Es gibt in der Volkswirtschaftslehre keine Theorie, aus der sich ableiten lässt, wann ein Exportüberschuss „zu hoch“ ist. Auch ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht ist nicht gleichbedeutend mit einem Saldo von null. Solange die Exportüberschüsse das Ergebnis von Marktprozessen sind, ist das eigentlich nicht zu beanstanden. Es gibt nun aber tatsächlich ein paar verzerrende Faktoren, die die deutschen Überschüsse fördern, wie zum Beispiel der niedrig bewertete Euro.
Dagegen kann die Bundesregierung kaum etwas machen, auch wenn das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahr 1967 ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht verlangt. Ist dieses Gesetz überhaupt noch zeitgemäß?
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz stammt aus einer Zeit, als es grundsätzlich noch feste Wechselkurse gab. Weltweit dominieren heute flexible Wechselkurse, allerdings sind in der Eurozone keine Auf- und Abwertungen möglich. Da spricht schon etwas dafür, die Auswirkungen auf die Euro-Partnerländer zu berücksichtigen. Die EU-Kommission betrachtet Leistungsbilanzüberschüsse über sechs Prozent als Indikator für ein makroökonomisches Ungleichgewicht. Wir liegen darüber. Nach meiner Ansicht wird in Deutschland zu leicht argumentiert, dass wir da keinen Spielraum hätten. Das stimmt so nicht. Es gibt Struktureffekte, an denen wir arbeiten sollten.
Was bedeutet eigentlich ein Exportüberschuss oder – wenn noch die Dienstleistungen hinzugenommen werden – ein Überschuss in der Leistungsbilanz?
Mit dem Export- oder Leistungsbilanzüberschuss geht immer ein Kapitalexport einher. Unser Kapital wird nicht im Inland investiert, sondern im Ausland. Wenn wir ein Produkt in den USA verkaufen, dann bekommen wir dafür Dollar. Für diese können wir entweder in den USA etwas kaufen, dann haben wir keinen Überschuss. Oder wir legen den in Dollar erzielten Verkaufserlös in den USA an, dann kommt es zum Kapitalexport. Nun stellt sich die Frage nach der treibenden Kraft dieser Entwicklung: Ist unsere Industrie so stark, dass zwangsläufig ein Exportüberschuss entsteht? Oder dominiert der Drang, im Ausland statt im Inland zu investieren? Ich glaube, dass beides eine Rolle spielt. Zum einen haben wir tolle Produkte, vielfach hergestellt von Hidden Champions. Auf der anderen Seite wird viel im Ausland und verhältnismäßig wenig in Deutschland investiert.
Den Eurokurs kann die Bundesregierung kaum beeinflussen, aber sie kann durch höhere staatliche Investitionen etwas für die Binnenkonjunktur tun. Wäre das der richtige Weg?
Die Investitionen der öffentlichen Hand in die Infrastruktur werden in den nächsten Jahren sicherlich steigen. Davon sollten wir uns aber nicht zu viel für die Leistungsbilanz versprechen, denn die Investitionen des Privatsektors sind um den Faktor zehn höher. Allerdings kann der Staat noch mehr tun. Er sollte sich zum Beispiel die Märkte genau anschauen, in denen Barrieren den Zutritt für Anbieter, insbesondere auch aus dem Ausland, erschweren, zum Beispiel im Dienstleistungsbereich. Auf europäischer Ebene versucht Brüssel mit einem Maßnahmenpaket, Hindernisse im grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen abzubauen. Da haben wir Handlungsspielräume, wenngleich der Effekt auf die Exportüberschüsse auch hier überschaubar wäre.
Auch Steuersenkungen und der Abbau des Solidaritätszuschlags würden die Binnenkonjunktur stärken. Reichen die diskutierten Entlastungen von 15 Milliarden Euro aus?
Es ist ein guter Mix, die hohen Steuereinnahmen sowohl für Steuersenkungen als auch für Investitionen zu verwenden. Trotz der derzeit sehr guten wirtschaftlichen Lage sollten wir aber nicht davon ausgehen, dass das jetzt in den nächsten 20 Jahren so bleiben wird. Es spricht daher einiges dafür, beim öffentlichen Haushalt einen gewissen Puffer einzubauen.
Hat die deutsche Industrie zu viel im Ausland investiert?
Die Frage nach dem „zu viel“ lässt sich ebenso wie bei den Exportüberschüssen nicht genau beantworten. Wir sind nun einmal eine extrem exportorientierte Nation, andere Länder haben keinen so hohen Exportanteil. Es gibt gute Gründe, ins Ausland zu gehen, weil dort Kunden sitzen oder weil die Lohnkosten niedrig sind. Es stellt sich aber die Frage, ob es in Deutschland die richtigen Anreize gibt, hier genügend zu investieren. Da sind wir wieder bei der Infrastruktur, zum Beispiel dem Breitbandausbau in den ländlichen Regionen. Hier sowie auf manch anderen Feldern kann die Politik etwas tun. Ein Thema, das mich sehr stark beschäftigt, ist beispielsweise die zu geringe Digitalisierung des öffentlichen Dienstes und des Gesundheitswesens. Hier brauchen wir einen Innovationsschub.
Sind die aktuell weiter steigenden Exporte Deutschlands ein Zeichen dafür, dass über Einschränkungen des Handels, die zum Beispiel US-Präsident Donald Trump androht, vor allem geredet wird?
Da wird vielfach falsch argumentiert. Ein Großteil der Arbeitsplatzverlagerungen, die in den USA stattgefunden haben, war technologisch bedingt, nicht globalisierungsbedingt. Das Verhältnis dürfte etwa bei 80 zu 20 liegen. Und: Die deutschen Exporte in die USA sind etwas anderes als die chinesischen Exporte dorthin. China bietet Produkte an, die den sektoralen Wandel verstärken. Wir verkaufen nicht in die USA, weil wir billiger sind; vielmehr unterstützt zum Beispiel der deutsche Maschinenbau etwa im Anlagenbau die US-amerikanischen Industriebranchen, die noch da sind.
Aber die Zahl der Handelsbeschränkungen nimmt weltweit zu, und die Kritik an der Globalisierung wächst.
Ja, protektionistische Maßnahmen sind weltweit zu beobachten. Auch in Europa haben wir Anti-Dumping-Maßnahmen ergriffen, etwa im Falle Chinas. Was die Globalisierung betrifft, so haben Deutschland und viele andere Länder von der Intensivierung des Handels stark profitiert. Ein großer Teil des Widerstands gegen die Globalisierung ist allerdings migrationsbedingt. Dafür ist Großbritannien ein gutes Beispiel. Die Briten würden gerne im EU-Binnenmarkt bleiben und die Handelsvorteile weiter genießen, wenn es die Migration nicht gäbe. Das Land hat nach der EU-Osterweiterung seinen Arbeitsmarkt ohne Übergangsfristen geöffnet. Die daraus resultierende starke Zuwanderung war zwar wirtschaftlich gut für Großbritannien, hat aber viel Kritik und Widerstand verursacht.
Die Welt zerfällt immer mehr in Zonen mit bilateralen Handelsabkommen, weil die multilateralen Abkommen, die von der Welthandelsorganisation WTO zu verhandeln wären, blockiert sind. Ist das eine gute Entwicklung?
Die WTO stößt an ihre Grenzen. Die Doha-Runde hat 2001 begonnen und ist trotz vieler Anläufe nicht zu einem Abschluss gekommen. Wir haben die drei großen Wirtschaftsräume – USA, Europa und China. Es geht mittlerweile weniger um Zölle, vielmehr um technische Standards und die Sicherheit der Investitionen. Wenn sich diese Regionen auf Standards einigen könnten, dann wäre das ein Riesenfortschritt. Natürlich wäre es ideal, wenn das über die WTO gehen würde, aber diese Erwartung ist leider nicht realistisch.
Ist das Projekt TTIP erledigt oder rechnen Sie mit einem Comeback?
Es ist gut, dass TTIP weiter diskutiert wird, auch wenn der ideale Zeitpunkt für einen Neustart womöglich noch nicht gekommen ist. Der Einfluss von China wird immer stärker. Wenn die USA und die EU ein Abkommen hinbekämen, dann würde das Maßstäbe setzen.
Brauchen wir Schiedsgerichte?
Ja, das auszuklammern macht wenig Sinn. Über die Ausgestaltung kann man diskutieren, und diese Diskussionen haben ja zum Beispiel im Fall des Abkommens Ceta zwischen der EU und Kanada zu Änderungen geführt. Es muss einfach Rechtssicherheit bei Investitionen gegeben sein.
Ist die weltweite Kritik an der Globalisierung auch ein Vorwurf an die Wirtschaftswissenschaften, die Vor- und Nachteile der Globalisierung nicht hinreichend klar gemacht zu haben?
Das Wissen war vorhanden. Das einflussreiche Heckscher-Ohlin-Modell aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte bereits gezeigt, dass es auch Sektoren gibt, die bei der Globalisierung verlieren. In der Wirtschaftspolitik ist häufig freilich zu leichtfertig gesagt worden, Globalisierung sei gut, ohne auch auf mögliche Verlierer hinzuweisen. Es ist deshalb gut, dass sich in den vergangenen Jahren verstärkt Wissenschaftler darum bemüht haben, herauszufinden, welche Regionen und Sektoren wie genau von der Globalisierung betroffen sind. Diese Erkenntnisse können dazu beitragen, den Außenhandel so zu steuern, dass am Ende alle von den Vorteilen des Welthandels profitieren.