Seit 36 Jahren betreibt Jürgen Krug den Kulturbesen in Stuttgart-Feuerbach. Seinen Kleinkunststadel führt der gebürtige Franke im Geiste von Karl Valentin. Ein Abend mit Regent, Sauerkraut und Musik-Kabarett.

Stuttgart - Man könnte der Nase nachgehen. Ein Sauerkrautgeruch hängt in der Luft und lockt einen in den Hinterhof. Von dort erklingt fröhliches Stimmengewirr. Um halb acht ist der Raum bereits gut gefüllt, ein Wohnzimmer im Hochparterre. Der Hausherr Jürgen Krug, immer mit rotem Schal, empfängt die Gäste im engen Flur und weist ihnen die Plätze zu. Wer Glück hat, bekommt einen Stuhl oder eine Bank an der Wand zum Anlehnen. Klaustrophobisch oder menschenscheu darf man hier nicht sein.

 

Rasch ein Blick in die Küche, in der Karin Turba, die immer strahlende Partnerin von Krug, in den Töpfen rührt, und nach hinten in die Künstlergarderobe, Besenkammer genannt, wo sich vier Herren vor ihrem Auftritt stärken.

Auch das Publikum stärkt sich für den Abend mit Schweinehals oder Kassler aus dem Backofen, Leber-, Grieben-, Bratwürsten. Dazu gibt’s Brot und Sauerkraut, für Vegetarier Käse, manchmal Gemüseküchle. Bei den Weinen stehen zur Auswahl Kerner, Lemberger Weißherbst, Trollinger-Dornfelder und ein tiefroter Regent für Kenner. Neben Karaffen und Wasserflaschen erstaunt die große Menge an Saftgläsern auf den Tischen. Wegen der Fastenzeit? Oder trinken die hörbar aus Sachsen Reigschmeckten weniger Wein? Der Stimmung tut das jedenfalls keinen Abbruch.

Viele Gäste sind nicht zum ersten Mal hier, manche laden gern einmal Bekannte ein. Siebzig Sitzplätze sollen es sein, auf ein paar mehr kommt es nicht an, die Enge wirkt gemütlich und kommunikativ.

Plötzlich tiefes Dunkel. Stromausfall? In heller Kutte mit Kapuze schreitet ein Mönch auf die Bühne, erleuchtet sie mit einer großen Kerze, ein zweiter folgt, ein dritter und vierter, Gregorianisches singend, erst leise, dann lauter von einem Brahms’schen Ungarischen Tanz übertönt. „Kutta Ra!“ heißt die Parole – das einst abgelegte Gelübde wird wieder abgelegt. Im ersten Lied stellen sich die Vier, nun allesamt im eleganten Frack mit Zylinder, als „Chor der Mönche ohne Zölibat“ vor.

Jodelnde Mönche

Ihre Geschichte, so wird berichtet, reicht zwar nicht ins Mittelalter, aber ins Jahr 1990 zurück – als vier Herren das Bauernkriegsdrama des Melchinger Theaters Lindenhof um als Mönche kostümierte Musiker bereicherten. In der Zeit zwischen den Auftritten „geschah ihnen die Idee“ von der Gründung eines A-cappella-Männerquartetts. Ein halbes Jahr später war das erste Abendprogramm fertig, und seither gastieren die Mönche mit „gnadenlos weltlichem Musikkabarett“ auf den Kleinkunstbühnen im Land. In vier Stimmlagen: Countertenor, Tenor, Bariton und Bass, dazu eine Tuba und zwei Gitarren, heizen die Mönche ein. Und es wundert wenig, dass sie oft im Kulturbesen eingeladen waren. Für die schwäbisch-hintersinnigen Texte und mitreißenden Klänge zeichnet meist Michael Niethammer verantwortlich.

Eine Frau vom vordersten Tisch wird auf die Bühne gebeten und spielt das Angeschmachtetwerden genießerisch mit, als täte sie nie etwas anderes. Zum Vergnügen des Publikums demonstrieren die Mönche, wie das Jodeln erfunden wurde, und empfehlen als einfache Lösung für den Umgang mit Bergen von Formularen: „I han en Ofa.“ Oder beklagen die Tücken des ÖPNV, dessen Kombi-Eintritts-Fahrkarten überall gelten, nur halt grad nicht von Metzingen bis nach Bempflingen.

Als man sich gerade richtig eingelacht hat, ist Pause. Ein großes Schild verspricht Sauerkrautkuchen, die Bedienungen sind schnell, kaum geordert, stehen Getränke und Teller auf dem Tisch und der Verzehr ist auf dem Bierdeckelrand notiert, wo die Weinranken eben Platz bieten. Dieses Rankenwerk ist ein Markenzeichen, es findet sich auf der Speise-Getränke-Karte wie auf dem vierseitigen Programmblatt, dessen Unübersichtlichkeit Jürgen Krug gespielt hilflos kommentiert: Wie soll er es denn machen? Also wird es bei diesem typografischen Wirrwarr bleiben.

Genauso wie bei den Fotos von Karl Valentin und Plakaten des Malers Michael Mathias Prechtl an den Wänden. Schließlich ist der Besenwirt eine bayrische Marke: Jürgen Krug stammt aus Franken, wurde 1944 in Gochsheim nahe Schweinfurt geboren. Mit einem Stipendium konnte er 1967 studieren: Maschinenbau und Mathematik an der genau in dem Jahr zur Universität beförderten TH Stuttgart.

Mit Valentin fing alles an

Im Studentenwohnheim führte er unter großem Beifall Karl Valentins „Orchesterprobe“ auf, dessen Schallplatten hatten es Jürgen Krug schon als Kind angetan. Später trat er im Kommunalen Kontakttheater unter Hanne Tächl auf, und bis heute ist er mit Heino Wagner und Karl Friedrich Gebhardt und ihrem Wrdlbrmpfd-Theater selbst gelegentlich im Besen zu erleben.

„Wrdlbrmpfd“ ist ein Zauberwort, wer es einwandfrei aussprechen kann, erhält angeblich Rabatt auf den Künstlerbeitrag. Woher es kommt? Den unaussprechlichen, unschreibbaren Namen „Wrdlbrmpfd“ hat der Radfahrer Valentin einem Schutzmann bei der Fahrzeugkontrolle genannt. Neben der Formulierung „Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut“ oder dem Zitat „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“ gehört es zu Valentins geflügelten Worten.

Letzteres könnte Krug gewiss unterschreiben. Von Beruf war er Gewerbelehrer an der Robert-Bosch-Schule in Zuffenhausen und träumte nebenbei den Traum von der eigenen Kleinkunstbühne. Da bekam er einen Weinberg angeboten, studierte in der Landesbibliothek Bücher über den Weinbau und ließ sich von Karl Munz vom Wein-, Obst und Gartenbauverein Feuerbach über hiesige Spezialitäten aufklären. Am dortigen Lemberg baute Krug dann als Erster die pilztolerante Rotweintraube Regent an, die nicht gespritzt werden muss.

Den Wengertern ist der Ausschank des eigenen Weines in einer Besen-, Straußen- oder Kranzwirtschaft während vier Monaten gestattet, wenn im Weinberg weniger zu tun ist und vor der Lese, um die Fässer zu leeren. Im Frühjahr 1980 hat Jürgen Krug zum ersten Mal gemeinsam mit Karin Turba das Wohnzimmer ausgeräumt und den Besen rausgehängt, dann acht Jahre jeweils im Frühjahr und seither zweimal jährlich. Also rund 65 Mal, rechnet Krug vor, wurde die Besenwirtschaft feierlich mit Dixieland eröffnet. In diesem Jahr war das Ende Januar. Bis 2. April hängt der Besen noch, dann wieder von Mitte Oktober an.

Bossi hat die Handwerker im Haus

Eingeladen sind immer mehrere Künstler. Die Musiker treten je dreimal auf, dazwischen zweimal die Wortakrobaten, Performer und Kabarettisten. „Die Leute wünschen sich das“, begründet das Krug.

Nach der Pause kommt Olaf Bossi, der für einen kranken Kollegen eingesprungen. Der junge Stuttgarter Musikkabarettist, Gewinner des letztjährigen Landes-Kleinkunstpreises, bezirzt das Publikum mit leiser Stimme, harmonischen Gitarrenklängen und satirischer Umsetzung unser aller Erfahrungen: „Ich hab die Handwerker im Haus“ heißen seine Balladen, oder „Der auf den Bildern nie drauf ist“ oder „Der schönste Urlaub aller Zeiten“. Nachdenklich wirkt das, sehr authentisch, wenn er darüber reflektiert, wie man nie werden wollte und dass es schließlich doch besser sei, sich nicht zu ändern. Er erklärt das Gesundheitssystem und warum man in Stuttgart „echt kein Gangsterrapper werden“ kann. Mit seinem Liederkabarett schafft Bossi eine Krugstadelstimmung.

Ein solcher Abend ist ganz nach dem Geschmack des Besenchefs Krug: anspruchsvolle Unterhaltung, die dem Publikum schmeckt wie das bodenständige Essen – Kopf und Bauch gehören für ihn „z’samma“. Er besitzt einen Waschkorb voller Zeitungsberichte, Programmzettel, Ankündigungen, Fanpost, Fotos, Büchern über den Besen und hat viel zu erzählen über Freunde und Feste – Kleinkunstfeste, Weinbergfeste, Oktoberfeste. Krug verabschiedet sich schließlich, er wolle sich noch seinem Philosophen widmen, gerade ist es wieder Immanuel Kant, jüngst hat er sich das neue, dreibändige Kant-Lexikon gekauft.

„Sagt, wer machte uns so trunken?“

Ein Waschkorb voll – in 36 Jahren ist viel zusammengekommen. Wer alles bei ihm aufgetreten ist: ganz am Anfang waren es Michael Spohn und Peter Schlack mit Mundartlichem, die Staatsschauspieler Elke Twiesselmann und Wolfgang Höper mit Vorträgen über Goethe und den Wein. Sigrid Früh erzählte erotische Märchen, Else Schlieter las schwäbische Gedichte. Viele waren zu Beginn ihrer Karriere „beim Krug“: Uli Keuler, Bernd Kohlhepp, Christoph Stählin, Dieter Nuhr, Urban Priol, Max Uthoff. Ernst Konarek hat denkwürdige Abende gestaltet: als „Herr Karl“, mit Becketts „Letztem Band“ und mit Gottfried Breitfuß das legendäre Stück „Indien“.

Timo Brunke schrieb zum 30-jährigen Bestehen ein Langgedicht über „Das Welt-Brettl von Feuerbach“. Darin reimt er: „Wiener Lieder und Schmonzetten/Mummenschanz und Comedy/Blasmusik und Mundartreime/Dixie, Goethe und Magie./Funkeln Trollinger, Regent/Wird das Dasein transparent/für die hier vor unsern Knien/dargebrachten Fantasien.“ Das End vom Lied: „Sagt, wer machte uns so trunken/ Weingeist oder Weltgeistfunken?“

Nach vier, fünf Stunden wird der Regent bezahlt, man greift zu den Mänteln, in denen der Sauerkrautgeruch noch eine Weile hängen wird, und schleicht nach Hause, im Ohr das Wiegenlied von Olaf Bossi „Schlaf mein Kindchen schlaf“.