Der Jazzpianist Keith Jarrett wird siebzig Jahre alt. Seine Musik ist mindestens so legendär wie sein Gehabe.

Stuttgart - Vielleicht muss man ein Genie auf den Boden zurückholen, um es verstehen zu können. Vielleicht muss man versuchen, den Mythos eines Glorifizierten zurück ins Weltliche zu übersetzen, um jenseits aller Verherrlichung begreifen zu können, worum es geht. Vielleicht muss man etwas wieder klein machen, um seine Größe zu erkennen. Dem Pianisten Keith Jarrett etwa, der an diesem Freitag seinen siebzigsten Geburtstag feiert, und der sich zuweilen aufführt, als wäre er Gott und Teufel in einem, könnte mal jemand sagen: Gott ist aber größer – und der Teufel auch.

 

Keith Jarrett würde das nicht glauben. Jarrett selbst hat einmal behauptet, dass es Größeres geben müsse als seine eigenen Ideen, um ein Solokonzert durchzustehen – und er meinte damit nicht etwa, dass Gott durch seine, Jarretts, Finger musiziere. Er bricht Auftritte ab, wenn jemand hüstelt. Er macht Veranstaltern zur Auflage, ihm am Konzerttag drei Flügel hinzustellen, aus denen der Auserwählte dann einen auswählt. Er nimmt nach jedem Konzert in Europa immer ein Privatflugzeug, um noch in sein – immergleiches – Hotel in Nizza zu kommen. Er lässt sich in Konzertpausen vom eigenen Physiotherapeuten behandeln, weil Gott oft Rücken hat. Und wenn Gott Rücken hat, ist er schlecht gelaunt. Und wenn er schlecht gelaunt ist – Teufel! Der Jazzkritiker Joachim-Ernst Berendt hat diese andere, nicht musikalische Seite Jarretts, die mit seiner Musik tatsächlich aber nur auf den ersten Blick nichts zu tun hat, einst so beschrieben: „Es gibt in Jarretts Persönlichkeit wie in seiner Musik etwas von jenem an Bayreuth erinnernden Gehabe gewisser spätromantischer Künstler, das Verehrung und Weihrauchstimmung dadurch zu fordern scheint, dass sie sich selbst verehren.“

Natürlich wäre es ungerecht, den am 8. Mai 1945 als ersten von fünf Brüdern in Allentown/Pennsylvania geborenen Keith Jarrett auf sein Gehabe zu reduzieren – obgleich es seine Musik grundiert. Wenn sich die Weihrauchnebelschwaden verziehen, wird der Blick frei auf das Übermaß an Perspektiven und Optionen in Jarretts Spiel, auf seine Kunst, Klischees zu meiden wie der Dieb die Polizei. Darauf also, was der Journalist Wolfgang Sandner in seiner jüngst erschienenen Jarrett-Biografie so beschreibt: „Man erkennt Keith Jarrett an seiner schier grenzenlosen Fähigkeit zur weitschweifigen Selbstinterpretation, an einem faszinierend virtuosen Spiel, bei dem doch nie das Gefühl überwiegt, es gebe Noten, die besser nicht gespielt worden wären.“

Sandner kommt dem Menschen Jarrett in seinem Buch so nahe, wie man ihm nur kommen kann – was aber nicht viel bedeutet bei jemandem, der nichts preisgeben will als seine Musik. Jazz bedeute, so hat die Pianistin JoAnn Brackeen einmal gesagt, „Menschliches spirituell“ zu machen. Auf diesem Trip ist das Wunderkind Jarrett weit gekommen, seit es mit drei Jahren seinen ersten Klavierunterricht bekommen und mit fünf sein erstes Konzert gegeben hat. Seine Musik reicht längst über den Jazz hinaus. „Wenn Jarrett in Hochform ist, schweben Fetzen aller möglichen Musik durch sein Spiel“, schreibt Geoff Dyer in seinem Buch „But beautiful“, „aber man spürt nie irgendeine Angestrengtheit, diese disparaten Einflüsse zu kombinieren.“ Zu hören ist das auch auf zwei Alben, die Jarretts Label ECM nun am Geburtstag veröffentlicht: „Creation“ mit sechs Solokonzerten von 2014, „Barber/Bartók“ mit klassischen Werken aus den achtziger Jahren.

Egal, ob am Anfang bei Art Blakeys Jazz Messengers, später im Quartett von Charles Lloyd oder bei Miles Davis, egal, ob mit seinen eigenen Quartetten, ob bei Solokonzerten oder jenen mit dem Standard-Trio um Gary Peacock und Jack DeJohnette: „Jarretts Konzerte“, so schreibt Wolfgang Sandner, „sind Operationen am offenen Herzen der Musik unter Aufsicht der Öffentlichkeit.“ Und bei Herz-OPs wird eben nicht gehüstelt oder mit dem Handy fotografiert.