Der erste Spielfilm des 1977 geborenen Kaliforniers Cary Joji Fukunaga erzählt vom harten Leben in Mexiko.

Stuttgart - Wo soll das nun hinführen? Immer im Kreis rum? Diese Frage stellt sich erst mal keiner der jungen Burschen, die in den armen Stadtvierteln und Landregionen Mexikos versuchen, in eine Gang aufgenommen zu werden. Weil es nur die Auswahl gibt, Mitglied einer Gang oder Opfer einer Gang zu werden. Der kleine Smiley tut also, was die harten Jungs von ihm erwarten, er lässt sich in einem Aufnahmeritual blutig prügeln und dann zum bedingungslosen Gehorsam verpflichten. Die Bande namens Mara Salvatrucha versteht sich als Familie, als Gemeinschaft ohne Ausstieg.

Nur der Tod löst die Bindung, und wer sich vorher löst, der soll sterben. Mit dieser extremen Drohung wird die Stabilität der Gang erzwungen. Ein Leben gilt nicht viel, wo ringsum lauter Menschen perspektivlos einen Tag nach dem anderen hinter sich bringen, denen die Gesellschaft zu verstehen gibt: wir brauchen euch nicht, ihr seid überflüssig, ihr kümmert uns nicht.

So ist denn auch Bedingung der endgültigen Aufnahme in die Gang, dass man selbst jemanden tötet. Smiley (Kristian Ferrer) ist zuversichtlich, dass er das schaffen wird, er sieht ja, wenn er in "Sin Nombre" um sich blickt, in verhärtete Gesichter und auf Aggressionspotenzial getrimmte Körper. Casper (Edgar Flores), der schon ein paar Jahre älter ist, hat es kaum so weit gebracht wie Smiley. Da besteht Hoffnung auf eine große Gangkarriere.

Das Lebensprinzip Gang


"Sin Nombre", der erste Spielfilm des 1977 geborenen Kaliforniers Cary Joji Fukunaga, zeigt uns dieses Bandenleben zunächst so überzeugend als geschlossenes System, dass wir uns gut vorstellen könnten, es werde hier nur eine Entwicklung geben: mehr Härte, mehr Bandenpathos, mehr Tattoos als bunte Beglaubigungen der eigenen Kriegerhaftigkeit. Aber es gibt da auch eine Parallelgeschichte, eine von Mobilität, Aufbruch, verbissener Hoffnung auf Veränderung. Während Smiley und El Casper tiefer ins Bestehende hineinwollen, schließen sich weiter südlich, in Honduras, drei Menschen dem Strom derer an, die aus dem Elend hinauswollen.

Das Mädchen Sayra (Paulina Gaitan), ihr Vater und ihr Onkel wollen es weit nach Norden schaffen, bis über die Grenze ins gelobte Land USA. Sayra ist nicht einmal so sicher, ob sie das möchte, sie spürt zunächst vor allem Verlust und Unsicherheit. Aber unterwegs bleibt nicht viel Gelegenheit zum Traurigsein. Sie merkt am Verhalten der Erwachsenen, dass der Weg gefährlich ist, dass nicht blind auf die Solidarität der Leidensgefährten vertraut werden darf, dass vor allem die Menschen am Rand der Strecke nicht nur Gutes im Sinn haben.

"Sin Nombre" schafft es, in einfachen, starken Bildern gesellschaftliche Spannungen auszudrücken. Kinder und Jugendliche, die zurückbleiben, werfen mit Steinen nach den armen Migranten, die auf den Dächern der Eisenbahnwaggons nach Norden fahren, die aufpassen müssen, rechtzeitig ab- und später wieder aufzuspringen, weil die Polizei die Bahnhöfe kontrolliert. Viel schlimmer noch sind die Gangs, für die schutzlos Reisende in ihrem Territorium Freiwild sind, nicht nur Beute, sondern eine Provokation, nämlich die hoffnungsvolle Instabilität, der Gegenentwurf zum Lebensprinzip Gang.

Virtuos, intensiv und beklemmend


Fukunaga lässt nun aber nicht Sayra und Casper einfach als Antipoden aufeinandertreffen. Als die beiden einander begegnen, hat es Casper aus seiner Lebensplanung des Stillstands hinausgerissen. Er hat in der Gang etwas so Abscheuliches erlebt, etwas, das ihm so nahe geht, dass er nicht mehr bleiben kann. Er fliegt nun selbst, aber das Faszinierende an "Sin Nombre" ist, dass der Film nun eben kein vorwärtsdrängendes Jagdfieber entfaltet. Ja, die Gang ist hinter Casper her, und Smiley, dem man doch den Ausstieg wünschen würde, bekommt während der Racheoperation seine große Chance, sich als Mara zu beweisen. Aber Fukunaga zeigt uns immer wieder Bilder des Aufgehaltenwerdens, des Stockens. Er lässt uns weniger den Zug spüren, der mit Pausen und Umwegen voranstampft, eher das Ausschwärmen der Gang, die Ausweitung ihrer Stillstandsblase. Saray und Casper kommen zwar immer wieder einen Ort weiter, aber sie stecken dann immer noch in dem System drin, dem sie entfliehen wollen.

"Sin Nombre" geht virtuos, intensiv und beklemmend mit diesem Widerspruch um. Eine Hatz durch die Straßen abseits eines Bahnhofs wird zur Suggestion eines Labyrinths, einer Landschaft, die ihre Bewohner immer wieder zurückführt in Situationen des Scheiterns und Erfahrungen der Ohnmacht. Gerade darum gehen uns die Personen und Schicksale hier nahe.

Sin Nombre. Mexiko, USA. Regie: Cary Joji Fukunaga. Mit Edgar Flores, Paulina Gaitan, Kristian Ferrer, Giovanni Florido. 96 Minuten. Ab 16 Jahren.


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