Der kirchliche Sonderweg bei den Tarifen sei überholt, sagt Wolfgang Lindenmaier, Vertreter der Mitarbeiter in der württembergischen Diakonie.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)
Stuttgart – Der 59-Jährige Wolfgang Lindenmaier ist seit mehr als 30 Jahren in kirchlichen Mitarbeitervertretungen (ähnlich wie Betriebsräte) aktiv. Der Jugend- und Heimerzieher ist der Vize der Arbeitsgemeinschaft dieser Gremien in der Württembergischen Diakonie und wirkte oft an Tarifgesprächen mit. Er sagt, der kirchliche Sonderweg bei den Tarife sei überholt.
Herr Lindenmaier, die Richter haben über zwei Konflikte aus Norddeutschland geurteilt. Ist die diakonische Welt in Württemberg noch in Ordnung?
Jein. Wir wenden hier mehrheitlich nicht ein Tarifrecht an, das so ungerecht ist wie das in Norddeutschland. Bei uns ist die Grundlage in der Regel das Tarifwerk des öffentlichen Dienstes (TVöD). Allerdings unterliegen von den 45.000 Beschäftigten in der württembergischen Diakonie 10.000 dem Bundestarif der EKD. Deren Lage ist genauso wie in Norddeutschland.

Warum diese Zweiklassengesellschaft?
Wir haben in der Bundesrepublik 18 verschiedene arbeitsrechtliche Kommissionen in der evangelischen Kirche. Die wichtigste ist die auf Bundesebene. Sie hat Leitcharakter. In dem Gremium vertreten Verbände die Mitarbeiterseite, die nicht sehr an der Basis verankert sind. Von Chancengleichheit und ebenbürtiger Stärke zweier Partner kann da bei den Verhandlungen keine Rede sein. Entsprechend fallen die Ergebnisse zu den Arbeitsbedingungen aus.

Inwiefern ist der Bundestarif denn schlechter?
Wir haben gerade November, da gibt es traditionell Weihnachtsgeld. Nach dem Tarif der Bundesdiakonie wird jetzt aber nur 50 Prozent davon ausgezahlt. Die andere Hälfte käme im Juni, aber nur dann, wenn die jeweilige Einrichtung schwarze Zahlen schreibt. Für jede unternehmerische Fehlleistung büßen dann die Beschäftigten.

Wen trifft dies besonders?
Diese Regelung gilt hier etwa für manche Arbeitnehmer der Heimstiftung, der Tochtergesellschaft der Samariterstiftung, der Zieglerschen Anstalten. Vorwiegend sind es Einrichtungen der Altenhilfe. Das liegt daran, dass Fachkräfte im EKD-Bundestarif oft zwar gleich oder besser bezahlt werden als im TVöD. Die Hilfskräfte werden deutlich schlechter bezahlt. Davon gibt es in der Altenhilfe besonders viele. So zahlen die Armen die Löhne der Reichen – sehr diakonisch.

Hätte die Erlaubnis zu streiken die Lage gebessert?
Nein. Wichtiger ist, dass wir den Sonderweg der Kirchen beim Arbeitsrecht grundsätzlich hinterfragen. Meiner Meinung nach ist der nicht mehr zeitgemäß bei einem Arbeitgeber mit 600.000 Beschäftigten. Die Streikfähigkeit dagegen wird nicht vor Gericht entschieden, sondern von der Frage, wie viele Kollegen bereit sind, einen Arbeitskampf zu führen und sich der Gewerkschaft anzuschließen. Da sieht es momentan nicht gut aus. Bundesweit liegt der Organisationsgrad bei rund fünf Prozent.

Deshalb gab es in der württembergischen Diakonie ja auch schon Streiks.
2007 haben etwa 200 Kollegen im Großraum Stuttgart gestreikt. 2012 haben wir zum Partizipationsstreik an der Runde im öffentlichen Dienst aufgerufen. Da haben bis zu 300 Leute mitgemacht.

Trotz Verbot? Welche Strafen gab es dafür?
Keine, wenn eine Streikbewegung stark genug ist, passiert auch nichts hinterher. Wenn der Arbeitgeber bei uns in der Einrichtung 100 Leute entlassen wollte, kann er hinterher den Laden dicht machen.

Die Verantwortlichen in Württemberg sind also cleverer als die norddeutschen, die vor Gericht ziehen?
Zum einen hat die Diakonie hier nicht so einen konfrontativen Kurs gefahren. Zum anderen war auch die Gewerkschaft schlauer, weil wir nur die Einrichtungen mit hohem Organisationsgrad zum Streik aufgerufen haben.

Warum funktioniert der kirchliche Sonderweg beim Tarifrecht nicht mehr?
Weil er auf der falschen Annahme beruht, dass es in Kirche und Diakonie keine nennenswerten Interessengegensätze gibt. Das ist seit einigen Jahren wegen des wachsenden Kostendrucks nicht mehr so.

Ist die Lage in der Privatwirtschaft besser?
Nein. Dort gibt es aber für die Mitarbeiter Möglichkeiten, sich zu wehren. Ein Beispiel: die Evangelische Gesellschaft hat eine Tochter in Heidenheim. Da verhandeln wir gerade einen Absenkungstarifvertrag, da die Einrichtung ziemlich gegen die Wand gefahren wurde. Die Kollegen haben kaum eine Möglichkeit, gegen eine zehnprozentige Gehaltssenkung vorzugehen. In anderen Unternehmen hätten die Mitarbeiter bei der Lage den Betrieb besetzt.

Warum wollen ihre katholischen Kollegen dann am kirchlichen Sonderweg festhalten?
Dort gibt es mehr Zentralismus. Die katholische Kirche kann auf die Einhaltung der Regeln pochen. Wir dagegen haben keinen diakonischen Konzern in Württemberg, der nicht eine weltliche Tochter gegründet hätte, um Mitarbeiter schlechter zu bezahlen. Das geht in der katholischen Kirche so nicht.

Was ändert nun das Erfurter Urteil?
Ich hoffe, dass nun die Angst der Mitarbeiter, sich zu organisieren und sich zu wehren, geringer wird.