Die Japaner feiern die Kirschblütensaison – einen botanischen Karneval, der die Zwänge des Alltags für wenige Tage außer Kraft setzt. Das Fest hat eine lange Geschichte.

Japan - Die teure Kamera musste sein. „Vier Jahre lang war ich mit der gleichen Ausrüstung unterwegs“, sagt Frau Tani. „Jedes Foto, das man mit dem Apparat machen konnte, habe ich gemacht.“ Diesmal ist die Mittvierzigerin ausgestattet wie ein Profi. Mit einem schweren Rucksack marschiert sie durch den Zoo von Kyoto. Die Affen und Tiger streift sie nur mit einem flüchtigen Blick. Was sie interessiert, steht zwischen den Gehegen: Kirschbäume. Wie große Blumensträuße wiegen sie sich im Frühlingswind, jeder Ast bedeckt von Tausenden Blüten, strahlend weiß mit einem Hauch von Rosa.

 

„Für Kirschblütenliebhaber ist der Zoo ein Geheimtipp, weil hier nicht so viele Menschen hingehen wie in die anderen Parks“, sagt Frau Tani. „Dabei gibt es hier einige besonders schöne Stellen für Fotos.“ Sie fährt die Beine ihres Stativs aus und stellt es unter einen Baum. Mit dem langen Objektiv zielt sie einen Ast entlang und drückt mehrmals ab. Die Komposition sieht bezaubernd aus: zartrosa Blüten, braune Zweige, blauer Himmel – blühende Kirschbäume sind ein dankbares Motiv. Die schönsten Fotos des Tages wird Frau Tani am Abend im Internet hochladen. Wenn die Saison in zehn Tagen vorbei ist, werden zu den Tausenden Bildern, die sie in den vergangenen Jahren gemacht hat, noch einige Gigabyte hinzugekommen sein. Braucht sie so viele Fotos? Was für eine Frage! „Sakura ist so schön – davon kann man nie genug Bilder haben.“

Kirschblüten sind wie Karneval

Sakura, so der japanische Name für Kirschblüte, spielt für die Japaner eine ähnliche Rolle wie für andere Kulturen der Karneval. Wenn nach den ersten warmen Frühjahrstagen die Knospen der Kirschbäume aufbrechen, beginnt Japans fünfte Jahreszeit – ein kollektiver Glückseligkeitstaumel, der die Zwänge des Alltags für kurze Zeit außer Kraft setzt. Millionenfach versammeln sich die Japaner in Parks oder unter den Bäumen in ihrer Nachbarschaft zum „Hanami“, dem gemeinsamen Kirschblütengucken. Sie setzen sich auf Decken oder blaue Plastikplanen, packen Picknickboxen, Bierdosen und Sake-Flaschen aus. Manche haben tragbare Karaoke-Maschinen dabei, doch auch ohne stimmt jede Runde über kurz oder lang das Kirschblütenlied an: „Sakura, Sakura – in Feldern, Hügeln und Dörfern“, lautet der Text. „Sakura, Sakura – Frühlingshimmel, so weit das Auge reicht.“ Die rosa Jahreszeit macht möglich, was die gesellschaftliche Etikette sonst meist verbietet: früher Feierabend machen oder Urlaub nehmen. In der Öffentlichkeit laut sein. Mit anderen aus einer Flasche trinken. Sich mit wildfremden Menschen in den Armen liegen.

Das kollektive „carpe diem“ hat eine lange Tradition. Schon im achten Jahrhundert versammelten sich die Japaner zum Hanami. Was heute die Kameras sind, waren damals Tusche und Reispapier. Mit Gedichten versuchten sie den Augenblick festzuhalten. Die kurze Pracht der Blüten wurde zur festen Metapher für die Vergänglichkeit des Lebens. „Mono no aware“, seufzen die Japaner bis heute voll pantheistischer Ergriffenheit und in Erinnerung an den Philosophen Motoori Norinaga, der damit im 18. Jahrhundert das japanische Daseinsgefühl beschrieb: „Ach, ihr Dinge!“

Symbol alles Japanischen

Doch ganz so harmlos blieben die Blüten nicht. Für die Nationalisten wurde Sakura zum Symbol alles Japanischen. Bei ihren Eroberungszügen quer durch Asien steckten die Japaner ihr Territorium nicht nur mit der Flagge der aufgehenden Sonne ab, sondern auch mit frisch gepflanzten Kirschbäumen. In patriotischen Liedern und Kriegspropaganda verherrlichte die Kirschblüte den Tod fürs Vaterland. Im Zweiten Weltkrieg hieß ein Geheimbund junger Offiziere „Sakura-Gesellschaft“, und die berüchtigten Kamikaze-Flieger malten weiße Blütenblätter auf ihre fliegenden Bomben, bevor sie damit zu ihren Selbstmordmissionen starteten.

Doch der Spuk ist lange vorbei. Heute feiern die Japaner die Kirschblüte mit den Mitteln der modernen Konsumgesellschaft. Die neue Kamera, mit der Frau Tani durch den Tierpark von Kyoto streift, kaufte sie beim „Sakura-Sale“ eines Elektronikgroßhandels. Vom Möbelhaus bis zum Karatestudio werden im Frühjahr Kirschblütenwochen ausgerufen. Brauereien bringen spezielle Sakura-Biere auf den Markt, Restaurants kochen mit Blütenblättern, und Cafés servieren rosafarbenen Milchkaffee. Hochzeitsfotografen und Standesbeamte sind ausgebucht, Hotels verdoppeln ihre Preise.

Auch in den japanischen Medien sind die Kirschblüten ein dominierendes Thema. Den Fernsehnachrichten folgt allabendlich die Sakura-Vorhersage – und wehe, die Experten irren sich. Als sie einige Jahre mit ihren Prognosen, wann sich die Blüten öffnen, um mehrere Tage danebenlagen, gab es einen Aufschrei der Empörung, denn viele Japaner hatten ihre Ferien danach geplant. Japans Chefmeteorologe musste sich bei einer landesweit live übertragenen Pressekonferenz entschuldigen und versprechen, künftig mehr Botaniker zu Beratern zu machen.

„Japan ist heute eine sehr moderne Gesellschaft, aber die Liebe zu Kirschblüten ist eine Tradition, die nie abgerissen ist“, sagt Toemon Sano. Der 84-jährige Gärtner ist eine nationale Berühmtheit, weil seine Familie seit Generationen einige der berühmtesten Kirschbaumanlagen in Kyoto pflegt. Allerdings sieht Sano Japans schönsten Brauch in weiten Teilen des Landes bedroht. „Durch die schlechte Umwelt und verschmutztes Wasser gedeihen viele Bäume nicht mehr so gut wie früher“, warnt er. „Wir müssen gut mit ihnen umgehen, denn wenn die Bäume leiden, leiden auch wir Menschen.“ So werden die Kirschblüten zu Ökobotschaftern. Denn was ist Sakura schließlich auch anderes als ein Sinnbild des menschlichen Lebens?