Wer eine ehrliche Einschätzung der Lage hören will, sollte Kinder fragen. Auch wenn die Ergebnisse gelegentlich niederschmetternd sind.

Zu den schlimmsten Errungenschaften des Erwachsenenseins gehört die Annahme, die eigenen Standpunkte wären grundsätzlich von derartiger Spannkraft, dass man sie unbedingt äußern müsste. „Ich bin doch nur ehrlich!“, sagen die Leute dann, und vorher meistens etwas unnötig Verletzendes. Dass jemand „ganz schön zugelegt“, gelbe Zähne oder miese Jeans anhätte. Als ob je jemandem mit einer derartigen Feststellung geholfen worden wäre.

 

Ich bin in der Hinsicht altmodisch: Wenn ich eine ehrliche Meinung möchte, dann frage ich den Fünfjährigen. Zum Beispiel, ob’s ihm geschmeckt hat. Zumindest seine letzte Gastrokritik war vernichtend: „Nein Papa, das war schrecklich!“. Im Anschluss nannte er mich noch einen „Verbrenner!“ und verpetzte mich zudem bei der Mutter, weil ich versuchte, mit Gewürzketchup zu retten, was noch zu retten ist. „Ketchup, Mama!“, sagte er und rollte verächtlich mit den Augen – wie so ein Erwachsener, der sich für den Guide Michelin interessiert. Die Mutter bekräftigte ihn in seiner kulinarischen Einschätzung und wieder scheiterte eine hoffnungsvolle Koch-Karriere an der Engstirnigkeit und Fantasielosigkeit der Klientel. Seitdem ruft man mir in der Küche nur zu, ich solle nichts anbrennen lassen und darauf achten, dass man das auch essen kann.

Wer lacht, verliert

Aber selbst schuld: Wir haben darüber gelacht. Und der Sohn hat das ganz genau mitbekommen, also unterm Strich: „Witze über Papa sind lustig!“. Und weil jeder gute Witz gewöhnlich mit mindestens einem Bein in der Realität steht, konnte ich da argumentativ auch keine große Sprünge machen.

Diese Mischform aus Ehrlichkeit und Humor zieht sich durch fast all unsere Lebensbereiche. Neulich klatschte er mir auf den Bauch und sagte: „Du hast da sehr viel Haut!“. Wieder haben alle Anwesenden (inklusive Hündin) gelacht. Als ich ihn zu einer wilden Kinderparty brachte und fragte, ob ich noch ein bisschen da bleiben oder gehen soll, sagte er: „Nee Papa, du kannst gehen, dann muss ich dich nicht die ganze Zeit quatschen hören!“. Dann hat er gelacht, weil Witze über Papa ja lustig sind. Ich: „Sag mal!“, Er: „War nur ein Spaß!“.

„Mensch, ärgere dich nicht!“

Wortgewaltig wird er auch. Als es beim „Mensch ärgere dich nicht!“-Spiel nicht zu seinen Gunsten lief, kamen zu seiner wütenden Bestandsaufnahme noch versierte Kraftausdrücke dazu, von denen nur „Hirnochse!“ und „Volldiot!“ zitierfähig sind. Wenigstens das: Von dem Tag, an dem Kinder in den Kindergarten gehen, haben Eltern für solche Anlässe immer eine Ausrede: „Also, bei uns hat er solche Wörter nicht gelernt!“.

Neulich hielt ich meine Einschätzung der Lage zu einem praktizierenden Politiker für derart spannkräftig, dass ich ins Schwadronieren verfiel und mich immer mehr reinsteigerte. Ich war erhitzt, voll in Fahrt – von ganzem Herzen und ehrlich – aber eben nur mittelmäßig kindgerecht. Als ich sagte „Der Typ ist doch ein riesen A...“ konnte ich gerade noch pädagogisch wertvoll vollbremsen und es in die Länge ziehen. „AAAAAAAAAAAAA“ Der Fünfjährige wartete geduldig, ob mir noch ein passendes Wort zufliegen würde. Als nichts passierte: „Papa, ich glaube, das Wort heißt Arschloch!“. Muss er im Kindergarten aufgeschnappt haben.

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Michael Setzer ist seit fünf Jahren Vater. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt.