Die Ukraine macht im Krieg mit Russland Boden gut. Präsident Selenskyj fordert vom Westen mehr Waffen. Die ukrainischen Erfolge befeuern auch in Deutschland Diskussionen über mehr Waffenlieferungen.

Die ukrainischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben seit Anfang September mehr als 3000 Quadratkilometer russisch besetzten Gebiets zurückerobert und weiten ihre Offensive vom Großraum Charkiw im Nordosten des Landes aus.

 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj pries den russischen Rückzug aus der Stadt Isjum gut 120 Kilometer südöstlich von Charkiw als Durchbruch in dem seit sechs Monaten andauernden russischen Angriffskrieg. Dieser Winter könne weitere schnelle Geländegewinne bringen für die Ukraine, vor allem wenn die Streitkräfte weiterhin mit schweren Waffen versorgt würden. Der Fall von Isjum ist die größte Niederlage für das russische Militär, seit es aus dem Gebiet um die Hauptstadt Kiew zurückgeschlagen wurde.

Selenskyj: „Schnelle Befreiung der Ukraine“

„Ich glaube, dieser Winter ist der Wendepunkt, und er kann zur schnellen Befreiung der Ukraine führen“, sagte Selenskyj am späten Samstagabend. „Wir sehen, wie sie in einige Richtungen fliehen“, sagte der Präsident mit Blick auf die russischen Streitkräfte. „Wenn wir noch ein bisschen stärker mit Waffen wären, würden wir noch schneller vorankommen.“

Offiziell hat die ukrainische Regierung die Wiedereinnahme von Isjum bislang nicht verkündet. Aber Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak veröffentlichte auf Twitter ein Foto von ukrainischen Truppen vor der Stadt und fügte ein Trauben-Emoji hinzu. „Isjum“ heißt im Russischen und im Ukrainischen „Rosinen“.

Grüne und FDP für Lieferung von schweren Waffen

Die militärischen Erfolge der Ukraine lassen in Deutschland den Ruf nach mehr Waffen für das angegriffene Land wieder lauter werden. In der Koalition dringen vor allem Grüne und FDP auf die Lieferung schwerer Waffen. „Alle in der Regierung wissen indes, dass noch mehr möglich wäre“, sagte Grünen-Chef Omid Nouripour der „Augsburger Allgemeinen“. „Da sollte nicht nur im Ringtausch, sondern wo möglich auch direkt aus den Beständen von Bundeswehr und Industrie geliefert werden.“

Beim Ringtausch rüstet Deutschland osteuropäische Nato-Partner mit Leopard-Kampfpanzern und Schützenpanzern Marder aus, die dafür ältere Panzer sowjetischer Bauart an die Ukraine abgeben. Der FDP-Verteidigungsexperte Marcus Faber forderte die direkte Lieferung von Marder-Schützenpanzern. „Mit unseren Panzern würde die Befreiung schneller vorankommen, und weniger Ukrainer müssten sterben“, sagte er der „Bild“-Zeitung (Montag). Der Finanzminister, FDP-Chef Christian Lindner, sagte „Bild“ angesichts des Etappensiegs der Ukraine: „Wir müssen jeden Tag prüfen, ob wir noch mehr tun können, um ihr in diesem Krieg beizustehen.“

Zurückhaltung bei direkten Lieferungen

Bisher hält sich vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei direkten Lieferungen zurück - mit dem Hinweis darauf, dass auch die großen Nato-Partner keine Panzer direkt liefern und Deutschland keine Alleingänge unternehmen will. Auch Nouripour sagte: „Wir müssen uns im Verbund mit unseren Alliierten bewegen. Das ist wichtiger als die Debatte um einzelne Waffensysteme.“

Die US-Botschafterin in Deutschland spricht sich aber vorsichtig für mehr deutsche Unterstützung für Kiew aus. Sie begrüße und bewundere, was die Deutschen für die Ukraine täten, sagte Amy Gutmann am Sonntagabend im ZDF. „Dennoch: Meine Erwartungen sind noch höher an Deutschland.“ Deutschland wolle hier eine größere Führungsrolle einnehmen. „Wir hoffen und erwarten, dass Deutschland das auch erfüllen wird.“ Und: „Wir müssen alles machen, wozu wir in der Lage sind“, sagte sie, vermied aber auf mehrere Nachfragen eine konkrete Festlegung, ob Deutschland mehr schwere Waffen liefern soll.

Klingbeil nicht völlig ablehnend

SPD-Chef Lars Klingbeil verschloss sich dem zumindest nicht und betonte die Notwendigkeit internationaler Abstimmung. „Natürlich müssen wir im westlichen Bündnis auch bewerten: Muss es jetzt weitere Waffenlieferungen geben? Und das muss schnell passieren“, sagte er am Sonntag in der ARD. „Das muss jetzt unter den Staats- und Regierungschefs besprochen werden angesichts der Forderungen aus der Ukraine, angesichts auch der Erfolge, die die Ukraine gerade hat.“

Nouripour sagte: „Wir müssen den Bedarf der Ukraine nach Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen. Gerade jetzt, bevor der Winter kommt, müssen wir die Ukraine dabei unterstützen, in diesem Jahr noch so viel wie möglich von ihrem eigenen Land zu befreien.“ Er ließ offen, ob dies etwa Leopard-Kampfpanzer beinhalten sollte. Kiew hat sowohl um Leopard-2 gebeten als auch um Schützenpanzer Marder, die die deutsche Rüstungsindustrie sofort liefern könnte; das Kanzleramt hat dafür aber bisher kein grünes Licht gegeben.

Lambrecht: „Ich habe viel Gerät auf dem Papier“

Bei Lieferungen aus Beständen der Bundeswehr sträubt sich Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Im Onlinemagazin Politico wies sie auf die Nato-Übereinkunft zur Verstärkung der Ostflanke hin, die Deutschland sehr ernst nehme. Aber: „Ich muss in der Lage sein, Material nach Litauen zu verlegen. Und ich sag es noch mal: Ich habe viel Gerät auf dem Papier - aber wenn ich mir die Einsatzbereitschaft anschaue, dann sieht die ganz anders aus.“ Dies liege an der früheren Unterfinanzierung der Bundeswehr. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte es jüngst jedoch als wichtiger eingestuft, die Ukraine zu unterstützen, als nach Plan gefüllte Waffenlager in Nato-Staaten zu haben.

Auch die Union macht wieder mehr Druck. „Die aktuelle Entwicklung in der Ukraine zeigt, mit den nötigen Mitteln kann Putins Invasionsdrang erfolgreich zurückgeschlagen werden“, sagte der verteidigungspolitische Fraktionssprecher Florian Hahn (CSU) den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Berlin muss endlich seine Zurückhaltung aufgeben und mehr Waffen liefern.“ Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sagte „Bild“: „Dazu zählen insbesondere auch Panzer aus den Beständen der Bundeswehr. Nirgendwo sonst werden sie gegenwärtig zur Wiederherstellung des Friedens