In den letzten Kriegsmonaten schrieb ein 15-jähriger Ludwigsburger Tagebuch. Der Schreiber lebt nicht mehr, doch seine Erinnerungen überdauerten durch Zufall. 76 Jahre später holen angehende Abiturienten Günter Schreckes Erlebnisse in die Gegenwart.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Ludwigsburg - Wie stark Jugendliche, die im Dritten Reich aufwuchsen, von der NS-Ideologie infiltriert waren, wie Not und Schrecken, aber gleichzeitig auch universelle, von äußeren Umständen unabhängige Themen wie Freundschaft, Verliebtsein oder Schule ihren Alltag prägten: Das haben Geschichte-Leistungskurs-Schüler des Ludwigsburger Friedrich-Schiller-Gymnasiums bei der Arbeit mit einem besonderen Zeitzeugnis erfahren. Sie lasen das im Stadtarchiv aufbewahrte Tagebuch von Günter Schrecke aus den letzten Kriegsmonaten 1945. Der Junge war damals 15 Jahre alt und wohnte mitten in Ludwigsburg. Die Arbeit mit Günters Tagebuch mündet nun in einen Beitrag der Schüler zur Volkstrauertag-Gedenkfeier am Sonntag.

 

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Mit scharfem Blick, wortgewandt, witzig, lakonisch und manchmal mit tiefem Ernst beobachtet und kommentiert Günter, was um ihn herum geschieht. Er verbringt Wochen alleine in der Wohnung in der Mozartstraße, während seine Familie bei Verwandten im Hohenlohischen ist. Stadtpfarrer Hans Faber und seiner Frau Lilo unterstützen ihn mental und verköstigen ihn mit. „Der Bäcker kann nicht mehr viel backen wegen Kohlenmangel“, schreibt er etwa im Januar 1945. Am 2. Februar notiert er: „Dreiviertel neun: Jagdbomber! Sie griffen den Bahnhof, die Züge und den Großsachsenheimer Flugplatz an. Ein toller Krach. Bis ich angezogen war, war der Hauptsegen vorüber.“ Als im Mai die amerikanische Armee sein Wohnhaus beschlagnahmt, berichtet er, wie eine Nachbarin um Hilfe schreit. „Ich legte mich jedoch ins Fenster und lachte, bis die Nachbarschaft mich herunterholte.“

Manches Klischee relativiert sich

76 Jahre später waren die Geschichte-Leistungskurs-Schüler fasziniert von dem Tagebuch, dem sie sich mit ihrem Lehrer Steffen Rupp annäherten. „Es hat mich überrascht, dass ein Jugendlicher so traurige Dinge erleben musste und sie auch teils ganz bewusst wahrgenommen und aufgeschrieben hat“, sagt zum Beispiel Joe Bez. Günter sei ein normaler Jugendlicher gewesen – „leider war es nur die falsche Zeit, um ein ganz normaler Jugendlicher zu sein. Ich finde ihn teils sehr sympathisch in dem, was er schreibt.“

Er habe sich schon oft gefragt, wie Jugendliche in seinem Alter damals über die NS-Zeit gedacht hätten, erzählt Kaan Kalca. „Beim Lesen habe ich gemerkt, dass Günter Schrecke zwar durchaus Gedankengut der Nazis verinnerlicht hatte, sich aber im Inneren mit typischen Gedanken für Leute in seinem Alter beschäftigte und keine bösartigen Gedanken wie NS-Verbrechen unterstützte.“ Manches Klischee über die Deutschen in der NS-Zeit sei für ihn nach der Lektüre nicht mehr haltbar, sagt der Schüler.

Die Totalität des Schreckensregimes

Dominik Matzke fand es erschreckend, „wie stark die Begeisterung des Jungen und seiner Freunde für die Wehrmacht war und wie es die Nationalsozialisten schafften, auch die Aufwachsenden in ihr Schreckensregime zu integrieren“. Oft habe er aber auch über Günters „fast freches Urteilen über seine Mitmenschen und Begegnungen“ geschmunzelt. Günter habe sich trotz materieller Not, fehlender Infrastruktur, düsterer Kriegsumstände und „dem Leid vor jeder Haustür“ nicht unterkriegen lassen. Die Beschäftigung mit den Erinnerungen des Jungen ging einher mit weiteren Recherchen: „Wir haben ergänzende und kommentierende Informationen erarbeitet und andere Quellen gesichtet“, erzählt Steffen Rupp.

Am Volkstrauertag präsentieren die Schüler auf dem alten Friedhof eine Auswahl aus dieser Arbeit, die starke Eindrücke bei ihnen hinterlassen hat. „Ich hoffe“, meint Dominik Matzke, „dass Materialien dieser Art weiterhin Alt und Jung dazu inspirieren, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen.“

Ein Zufallsfund und was daraus wurde

Das Tagebuch
Die Ludwigsburgerin Regina Nickel fand Günter Schreckes Tagebuch, das er zwischen Januar und Mai 1945 fast täglich führte, in einem Flohmarktbestand und wollte es ihm zurückgeben. Doch Nachforschungen ergaben, dass er schon lange verstorben ist und keine Nachkommen hat. Seine andernorts lebende Schwester wollte das damalige Geschehen nicht mehr an sich heranlassen und verzichtete auf das Dokument. Nun bewahrt es das Ludwigsburger Stadtarchiv auf.

Die Gedenkfeier
Ihren Beitrag zu Günters Tagebuch steuern die Schüler des Schiller-Gymnasiums der Gedenkfeier zum Volkstrauertag bei. Sie beginnt am Sonntag, 14. November, um 11.15 Uhr auf dem Ludwigsburger Ehrenfriedhof, Eingang Schorndorfer Straße. Wer teilnehmen möchte, muss geimpft oder genesen sein oder einen negativen PCR-Test vorzeigen.