Der Sonntagskaffee ist plötzlich nicht mehr nur etwas für den Rentnertreff. Auch die Generationen darunter haben erkannt: Es macht ganz schön Spaß, einfach mal nichts zu tun.

Stuttgart - Es wirkt stets recht bemüht, wenn wir unser gestiegenes Bedürfnis nach handgemachten Dingen immer auf die hektischen Zeiten schieben, in denen wir leben. Aber ein kleines bisschen stimmt es wahrscheinlich doch: Je schneller, je unvorhersehbarer sich unsere Welt dreht, desto mehr sehnen wir uns nach der Einfachheit zurück. An der Spitze dieser guten alten Zeit: der Sonntagskaffee. Spitzendeckchen, wertvolles Erbgeschirr, auf dem sich turmhohe Kuchenstücke nebst einem tennisballgroßen Sahneklecks stapeln – in dieser Disziplin waren unsere Großeltern die Meister.

 

In den letzten Jahren wurde diese Tradition auf dem Altar der bewussten Ernährung geopfert. Wir zählen den ganzen Tag Kalorien, schieben uns im Gehen einen Salat zwischen die Zähne und spülen ihn mit einem Kaffee aus einem To-go-Becher runter. Spaß macht das nicht, Entspannung bringt das schon gar nicht.

In 100 Jahren hat sich wenig geändert

Vielleicht auch deswegen erleben die Cafés in Stuttgart gerade eine bemerkenswerte Renaissance. Platzhirsch in Sachen Sonntagsritual ist das Café Stöckle beim Hölderlinplatz. Seit über 100 Jahren hat sich hier kaum etwas geändert, seit über 100 Jahren gibt es hier Kuchen aus eigener Herstellung. Und was für welche! „Die Klassiker wie Zwetschge, Apfel oder Schwarzwälder gehen bei uns am besten“, sagt die Inhaberin Carmen Gaukler. 1979 kauften ihre Eltern Stöckles den Betrieb ab, seit 2010 führt sie ihn in vollstem Traditionsbewusstsein. „An einem guten Wochenende“, fährt sie fort, „verkaufen wir gut mal 100 Kuchen.“

Dafür sorgen neben einem Bäcker gleich vier Konditoren, insgesamt kommt die West-Institution auf 26 Angestellte. Die braucht es auch, bei einem Anspruch wie diesem: „Bei uns werden Äpfel noch mit der Hand geschält und Pflaumen von Hand entsteint.“

Tradition und Qualität verpflichten, ganz klar. Carmen Gaukler fühlt sich davon aber nicht eingeengt, sondern vielmehr beflügelt. „Bei uns war immer auch schon die Mutter von der Mutter“, schwärmt sie. „Keine Lounge, keine Cupcakes, alles wie in der guten alten Zeit.“ Das zieht längst nicht mehr nur ältere Kunden an. „Unser Publikum ist extrem gemischt, vor allem sonntags“, nickt Gaukler. Deswegen gibt es dort auch keine Reservierungen mehr. „Die Leute sollen sitzen bleiben können, wenn sie möchten.“

Aus dem Hobby wurde eine Leidenschaft

Nun ist das Weiterführen einer Tradition wie dieser das eine. Das andere ist, in jungen Jahren ein eigenes Café zu öffnen, der Beginn einer neuen Tradition, sozusagen. Der jüngste Neuzugang hat sich seit wenigen Monaten am Wilhelmsplatz niedergelassen und hört auf den eindeutigen Namen Kuchenliebe. Inhaberin Astrid Christ ist in einer Gastronomiefamilie aufgewachsen, die Eltern hatten ein Hotel. „Dort lernte ich von klein auf das Backen, es war eines meiner ersten Hobbys.“ Es dauerte nicht lang, bis aus diesem Hobby eine ausgewachsene Leidenschaft wurde. Sicher, bei ihr gibt es auch mal ungewöhnliche Kreationen wie weißen Schokokuchen mit Marzipan und Mandeln. Die Philosophie, der Anspruch ist aber der gleiche wie bei einem Traditionshaus wie Stöckle: Vom ersten bis zum letzten Handgriff wird alles selbst gemacht.

Um anderen einen Freude zu machen

Kein Wunder: Christ liebt einfach alles am Backen: „Vor allem aber das Teilen des Genusses mit anderen. Denn in der Regel“, so stellt sie fest, „backt man ja nicht nur für sich alleine, sondern um anderen eine Freude zu machen.“ Deswegen achtet sie auf beste Partner und Produkte aus der Region, deswegen hat sie auch sonntags geöffnet. „Es gibt einige Stammgäste, die es sich zum Ritual gemacht haben, ihren Kuchen sonntags bei uns zu genießen“, erzählt sie. Für viele sei das eine regelrechte Belohnung: Man gönnt sich etwas Besonderes, man genießt zumindest einmal in der Woche eine gemeinsame Auszeit. Christ nickt. „Man merkt richtig, dass die Leute sonntags Lust auf Kuchen haben und sich auch einfach mehr Zeit nehmen für eine Tasse Kaffee als unter der Woche.“

So oder so: Nostalgische Erinnerungen gibt es zum Kuchen gratis dazu. „Wir bekommen oft die Rückmeldung, dass die Kunden das Selbstgemachte sehr schätzen, weil es sie an früher erinnert“, sagt Astrid Christ – und fordert uns mit allen anderen Bäckern und Cafébesitzern der Stadt dazu auf, unser Leben mehr zu verschwenden. Und ein wenig mehr an den Ausspruch des Schriftstellers Dean Koontz zu glauben: „Wo Kuchen ist, da ist auch Hoffnung. Und Kuchen gibt es immer.“ Das war vor 100 Jahren so. Und wird in 100 hoffentlich noch genauso sein.