Zwischen Louisiana und Texas schlägt das Herz der amerikanischen Flüssiggasindustrie. Europa schließt mit dem von dort stammenden Gas die Lücke, die durch den Wegfall russischer Lieferungen entstanden ist.

Es ist heiß auf Amerikas Fluss. Sehr heiß. Nur die anhaltende Brise vom Golf von Mexiko macht die Temperaturen um die 40 Grad auf dem Sabine River im Sommer erträglich. Wie Perlen an einer Kette reihen sich Raffinerien, Chemiefabriken und Verladeterminals auf dem drittgrößten Wasserweg der USA entlang der Grenze zwischen den Bundesstaaten Louisiana und Texas.

 

Kurz vor der Mündung steht die Wiege der US-Flüssiggasindustrie. Deutlich erkennbar an den gewaltigen weißen Tanks, in denen bei minus 162 Grad verflüssigtes Erdgas auf die Verladung wartet. Dieses kommt über Rohrleitungen aus dem benachbarten Perm-Becken in Texas und zum kleineren Teil aus Kanada. Am Sabine-Pass-LNG-Terminal liegt die unter der Flagge Singapurs fahrende BW Pavilion Aranda. Der 2019 in Betrieb genommene Supertanker lädt binnen Tagesfrist 173 400 Kubikmeter an LNG, bevor er für den Überseetransport nach Livorno in Italien aufbricht.

Im Juli 2022 überholte das US-Gas die Lieferungen aus Russland nach Westeuropa

Die 2016 in Betrieb genommene Sabine-Pass-LNG-Anlage von Cheniere war nicht nur das erste der sieben aktiven Exportterminals für Flüssiggas in den USA, sondern mit 30 Millionen Tonnen Kapazität auch das größte. „Wir sind der wichtigste Lieferant von LNG für Europa“, betont Finanzchef Corey Grindal. Nach seinen Worten besteht die Rolle seines Konzerns darin, den Europäern zu helfen, sich in kürzester Zeit aus der Abhängigkeit russischer Gaslieferungen zu befreien. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs sei der Löwenanteil des am Sabine Pass verladenen Flüssiggases nach Europa verschifft worden; im ersten Quartal dieses Jahres fast 80 Prozent. Der von Donald Trump 2019 im Streit über die Nord-Stream-2-Pipeline gebrauchte Begriff des „Freiheitsgases“ hat plötzlich eine Bedeutung erhalten, über die jetzt niemand mehr lacht. Im Juli 2022 überholte das US-Gas die Lieferungen aus Russland nach Westeuropa, die seitdem gegen null tendieren.

Kaum irgendwo lässt sich der LNG-Boom in den USA besser in Augenschein nehmen als entlang des Sabine River. Die Shrimp-Trawler und Sportboote sehen neben den bis zu drei Fußballfelder großen Flüssiggastankern wie Nussschalen aus. Rund 500 gibt es davon weltweit mit einer Transportkapazität von maximal 266 000 Kubikmeter LNG. Seit 2005 hat sich ihre Anzahl mehr als verdreifacht.

US-Regierung hat grünes Licht für zehn weitere LNG-Projekte gegeben

Unübersehbar ist das rasante Wachstum auch an den Flussufern. Dort sprießen Baukräne wie Pilze aus dem Boden, die im sumpfigen Marschland neue Flüssiggasanlagen errichten, die so groß wie kleine Städte sind.

Neben der Erweiterung der Sabine-Pass-LNG entsteht hier die Golden-Pass-LNG-Anlage, die bei Fertigstellung Anfang nächsten Jahres 18 Millionen Tonnen Flüssiggas liefert. Fortgeschritten ist auch das Port-Arthur-LNG-Projekt von Sempra, das rund 15,5 Millionen Tonnen an Kapazität hinzufügt. „Wenn das alles hier 2027 in Betrieb ist, kann der gesamte Gasbedarf Deutschlands gedeckt werden“, beschreibt Matthew Kaufman vom Sabine-Neches Navigation District die Dimension der Investitionen.

Die US-Regierung hat grünes Licht für zehn weitere LNG-Projekte gegeben. Je nach Statistik sind die USA bereits an Australien und Katar als größter Exporteur von Flüssiggas vorbeigezogen oder werden in Kürze den Weltmarkt anführen.

Kritiker fürchten um die Folgen für Umwelt und Klima

Kenneth Medlock III vom Baker Institute for Energy Studies an der Rice University in Houston erklärt den Aufstieg Amerikas zur LNG-Supermacht mit zwei Faktoren: die Fracking-Revolution in den USA und das ökonomische Wachstum. Durch die neue Technologie konnten die Amerikaner Reserven an Gas und Öl erschließen, die bei heutigem Verbrauch noch für mehr als hundert Jahre ausreichen. Das Wachstum wiederum habe mit dem Aufstieg bevölkerungsreicher Staaten wie China, Indien, Pakistan, Indonesien oder Bangladesch zu tun.

Kritiker fürchten um die Folgen für Umwelt und Klima. Sie erkennen in dem schwül-heißen Standort ein böses Omen für das, was die Gas- und Ölindustrie für das Klima insgesamt anrichtet. Die Häuser am Sabine Pass stehen auf Stelzen, weil die Region regelmäßig von schweren Hurrikans und Überschwemmungen heimgesucht wird. Laut einer Studie der Friends of the Earth verursachen die im Jahr 2022 geschlossenen Verträge für LNG-Exporte rund 351 Millionen Tonnen an CO2-Emissionen, was in etwa denen von 94 Kohlekraftwerken entspreche. Eine Gruppe von 300 Klimawissenschaftlern appellierte an US-Präsident Biden, den Ausbau der Gasinfrastruktur zu überdenken.

„Wenn wir fossile Brennstoffeersetzen, haben wir eine Depression“

Jeff Branick, der als Judge von Jefferson County so etwas wie ein deutscher Landrat ist, möchte davon nichts hören. Die beiden größten Raffinerien der USA sind am Sabine Pass zu Hause. Wie auch die petrochemische Industrie und das Flüssiggasgeschäft. All das schafft Tausende gut bezahlter Arbeitsplätze und lässt die Steuerquellen sprudeln.

Er sei „extrem stolz, wie Natur und Industrie hier zusammenwirken“, sagt Branick, der in nahen Port Arthur aufwuchs. Der Fluss und das Marschland seien ein Habitat für Vögel, Fische und allen möglichen Meerestieren, die zum großen Teil von der ökologischen Gesundheit der Marsch abhängig seien. Doch seine Liebe zur Natur hat Grenzen. „Wenn wir fossile Brennstoffe durch Solar und Wind ersetzen, haben wir eine Depression, wie wir sie seit 1929 nicht mehr gesehen haben.“ Cheniere-Finanzchef Grindal versucht erst gar nicht, die CO2-Bilanz schönzureden. „Sie werden niemals einhundert Prozent der Emissionen vermeiden können.“ Verflüssigtes Erdgas sei „eine perfekte Ausfallsicherung, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht bläst“. Experte Medlock sieht für Flüssiggas eine wichtige Rolle beim „Energieübergang“. Einerseits gehe es darum, aktuelle Engpässe in Europa zu überbrücken. In den Entwicklungs- und Schwellenländern könne Gas beim Aufbau der örtlichen Wirtschaft Kohle als Energieträger ersetzen.

LNG-Boom hat gerade erst begonnen

„LNG wird in den Osten fließen, nicht in den Westen“, erklärt Medlock den langfristigen Trend. „Europa war nie ein Wachstumsmarkt für LNG.“ Dass der Eindruck zurzeit ein anderer ist, hat damit zu tun, dass Flüssiggas von den Käufern meistbietend dahin verschifft wird, wo die höchsten Preise gezahlt werden. Zu Beginn des Ukraine-Kriegs war das in Europa.

Am Sabine Pass sorgt sich kaum jemand um mögliche Überkapazitäten. „Unsere Verträge schreiben keinen Zustellort vor“, erklärt Grindal das Geschäftsmodell. Gebaut werden zusätzliche Kapazitäten nur, wenn es auch garantierte Abnehmer gebe. Am Ende spiele es dabei keine Rolle, wohin das LNG geliefert werde. Der Markt ist heiß. So heiß wie die Temperaturen auf Amerikas Fluss, an dessen Ufern der LNG-Boom gerade erst begonnen hat.