Unsere Experten sind trotz des EM-Aus optimistisch: Flick wird’s richten.

Leonberg - Lothar Mattner hatte es wohl geahnt: In der zweiten Halbzeit holte sich der Fußball-Lehrer und Gastronom einen Stuhl und setzte sich alleine vor den Freiluft-Bildschirm seines Lokals in der Leonberger Altstadt. Die Fans um ihn herum waren da noch der Meinung, dass es am Ende des zähen Kicks etwas zu feiern geben könnte. Eine trügerische Hoffnung.

 

Am Tag danach ist bei Mattner das ungute Gefühl zu Gewissheit geworden. „England hat sehr viel gut gemacht“, sagt der Trainer. „Und wir hatten ja auch unsere Chancen. Wenn Müller oder Havertz das Tor gemacht hätten, wäre es womöglich in eine andere Richtung gelaufen“, meint Mattner. „Aber das war nicht das Entscheidende. Vielmehr haben die vorherigen Spiele gezeigt, dass im deutschen Team nicht alles rund läuft.“

Zahlen lügen nicht

Sein Trainerkollege Wolfgang Lamitschka drückt es noch drastischer aus: „Zahlen lügen nicht“, sagt der erfahrene Fußball-Lehrer aus Gerlingen. „Vier Spiele, ein Sieg, sieben Gegentore. Das sagt alles.“ Die Eigenschaften, mit denen sich vermeintlich kleine Mannschaften wie die Schweiz oder Tschechien in die Herzen des Publikums und ins Viertelfinale gespielt haben, vermisst Lamitschka bei der deutschen Elf: „Kampfgeist, Laufbereitschaft, Begeisterung, all das habe ich bei uns allenfalls phasenweise gesehen. Stattdessen macht man sich Gedanken über formschwache Franzosen oder englische Stürmer, die in der Vorrunde gerade einmal zwei Tore geschafft haben.“

Ähnlich sieht es Lisa Lang, die in unserem Experten-Trio die Skeptischste ist. „Ich habe von Anfang an den Deutschen nicht so viel zugetraut, aber das Achtelfinale ist eine Hürde, die man nehmen sollte.“ Hauptursache für das Ausscheiden ist in den Augen der Trainerin der Münchinger Fußballfrauen „die fehlende Mentalität, das Brennen für den Sieg.“

Nach 15 Jahren ist die Luft raus

Lag es auch am Trainer? Ja und nein, meint Lisa Lang, die Jogi Löws Kompetenz nicht bezweifelt, aber den Wechsel für richtig hält: „Nach 15 Jahren ist einfach die Luft raus“, sagt sie. „Wir haben heute andere Spielertypen. Das sind nicht nur internationale Top-Profis, sondern auch viele Junge. Die brauchen eine andere Form der Ansprache. Die muss man vom Spielfeldrand auch mal anfeuern.“

Dass Löw selbst den Generationswechsel auf der Trainerbank befürwortet, davon geht Wolfgang Lamitschka aus: „Er würde die Frage nach der Notwendigkeit eines Schnitts mit Ja beantworten.“ Wobei der einstige Torwart die Qualitäten des scheidenden Teamchefs in höchsten Töne lobt: „Löw hat den Fußball revolutioniert. Wir haben ihm sehr viel zu verdanken.“

Größter Respekt für Löw

Und auch Lothar Mattner zeigt „größten Respekt“ vor Joachim Löw: „Man darf nicht nur die vergangenen zwei Jahre im Blick haben. Er hat über weite Strecken tolle Arbeit gemacht.“ Deshalb ist es für Mattner „besonders schade“, dass der Bundestrainer nun mit dem Turnier-Aus die ganz große Bühne verlässt. „Er hätte spätestens nach der verkorksten Weltmeisterschaft 2018 gehen müssen.“

Der König ist tot, es lebe der König! Wird nun mit Hansi Flick alles besser, der ja selbst aus dem DFB-Stall kommt? Mit hoher Wahrscheinlichkeit, antworten unsere drei Altkreis-Fachleute mit bemerkenswerter Einmütigkeit. Und alle drei machen ihre Haltung am erfolgreichen Wirken Flicks beim FC Bayern fest.

Hoffnung auf Flick

„Ich glaube, dass er unserer Nationalelf gut tut, weil er einige Dinge ändert“, erwartet Lothar Mattner. „Das hat er in München klar gezeigt, und er hat ja dort nicht ohne Grund aufgehört.“ Dass Hansi Flicks Vergangenheit als Co-Trainer der Nationalmannschaft gegen ihn spricht, hält Mattner für falsch. „Im Gegenteil: Nachdem Flick den DFB verlassen hatte, ging es dort bergab.“ Große Hoffnung hat auch Wolfgang Lamitschka: „Flick hat bei Bayern den Fußball eingeführt, den ich mag – das Heft des Handelns in die Hand nehmen und agieren.“

Und selbst die kritische Dame im EM-Trio kann ihre Bewunderung kaum verbergen: „Flick hat ein unheimliches Gespür für Menschen“, lobt Lisa Lang den designierten Team-Chef. „Mit individueller Ansprache bringt er jeden Spieler zur Höchstleistung. Sowohl junge, die er integriert, als auch ältere, die er nicht einfach aussortiert, sondern ihnen ihre Wertigkeit als erfahrene Kräfte vermittelt.“

Es kann also mit Blick auf die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr nur besser werden. Doch Moment mal, wir haben ja noch ein laufendes Turnier. Die EM geht selbst ohne die Deutschen weiter. Und wer wird beim Finale am 11. Juli, übrigens in London, triumphieren?

England Final-Favorit

Ganz schwierige Frage, zumindest darin sind sich unsere Experten einig. „Die EM hat eine bemerkenswerte Eigendynamik entwickelt“, meint Wolfgang Lamitschka. „Wer hätte gedacht, dass wir jetzt Viertelfinal-Begegnungen wie England gegen Ukraine oder Tschechien gegen Dänemark haben? Es kann gut sein, dass etwas sehr Sonderbares passiert.“ Dennoch setzt der Gerlinger am Ende auf routinierte Mannschaften: „Die Italiener haben alle Spiele gewonnen, und die Belgier haben ein tolles Team.“

Bei den beiden anderen stehen die „Three Lions“ hoch im Kurs: „Die Engländer sind verdient dort, wo sie stehen“, sagt Lothar Mattner. „Und sie haben mit der Ukraine den vermeintlich leichtesten Gegner.“ Auch Lisa Lang „kann sich vorstellen, dass es mit England weitergeht.“ Einen Überraschungscoup der Schweizer hält sie für unwahrscheinlich: „Es ist unglaublich schwer, so ein Spiel zu wiederholen.“