Traurige und zugleich geografisch verwirrende Wahrheit: um in Stuttgart ausgezeichnete italienische Küche erleben zu können, muss man derzeit nach Esslingen fahren. Am Rathausplatz befindet sich das Ristorante Reichsstadt.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Traurige und zugleich geografisch verwirrende Wahrheit: um in Stuttgart ausgezeichnete italienische Küche erleben zu können, muss man derzeit nach Esslingen fahren. Am Rathausplatz der hübscheren kleinen Schwester von Stuttgart befindet sich seit fast zehn Jahren das Ristorante Reichsstadt. Wirt Salvatore Marrazzo war es anscheinend langweilig. Deshalb hat er einen Steinwurf entfernt nun das Accanto in einem 500 Jahre alten Haus eröffnet. Die dortige Küche umschreibt er mit „semplicissimo“.

 

Wenn das, was Marrazzo im Accanto auftischt, einfach sein soll, dann möchten wir den Wirt mit dem vollen Haar und der vollen Figur nicht erleben, wenn er mal ausgefallen kocht. Die Karte huldigt der Tavola Calda, der gehobenen italienischen Bistroküche, und umfasst nur wenige Vorspeisen und Pasta-Gerichte, die allesamt von ausgezeichneter Qualität sind. Hervorzuheben als Vorspeise sind die Piadina: Das dünne italienische Fladenbrot ist ursprünglich in der Emilia Romagna beheimatet und kommt im Accanto in zwei Varianten daher: Die Parma-Version (8 Euro) ist mit Ruccola, Schinken und Tomaten gefüllt und der Beweis, wie großartig italienische Küche ohne Firlefanz sein kann.

Spektakulär sind die Pasta-Varianten von Salvatore Marrazzo: Die Paccheri Fagioli (Euro 8,50) sind, Achtung, köstliches Wort, Hohlnudeln von kolossalem Durchmesser. Die Pasta von der gefühlten Breite des Gotthardtunnels wird begleitet von Bohnen. Das Rohmaterial stammt aus Gragnano, der inoffiziellen Hauptstadt der Pasta in der Provinz Neapel, wird 22 Minuten gekocht und sollte bei der Qualität eigentlich pur zelebriert werden. Marrazzo versteht es aber, der trotz der langen Garzeit unglaublich bissfesten Nudel behutsam beizukommen und sie mit rosa Kidneybohnen zu umschmeicheln. Ähnlich stark sind die Spaghetti Accanto (7,50 Euro). Die baden in einer Brokkoli-Sardellen-Soße, die raffiniert mit den Konsistenzen spielt: Die Soße ist cremig. die Sardellen sind zurückhaltend, am Ende wird gerösteter Crostini-Bruch hinzugefügt, der dem Ganzen eine krosse Note gibt.

Das ist Zauberei, nicht mehr und nicht weniger. So viel Lobhudelei ist furchtbar langweilig, wir müssen aber sogar noch einen draufsetzen: Im Stile eines Meistertrainers hat Marrazzo einen Königstransfer getätigt. Verantwortlich für Wein und allgemeines Wohlbefinden im Accanto ist Holger Birner, ehemals Restaurantleiter der Speisemeisterei. Birner verfügt über ein erstaunliches Weinwissen und eine Vorliebe für ungewöhnliche Weinregionen: Uns führt er mit einer Flasche 2010er Teroldego der Winzerin Elisabetta Foradori (39 Euro) geschmacklich ins Trentin. Die vielschichtige Teroldego-Rebe bietet dabei den perfekten Rahmen einer einfach spektakulären Nachhilfestunde in spektakulär einfacher italienischer Küche.

Accanto Rathausplatz 20, Esslingen, Telefon 07 11/27 35 43 20, www.ristorante-reichsstadt.de, geöffnet von Montag bis Sonntag jeweils ab 10 Uhr

Die Bewertung:

Küche *****

Service ****

Ambiente ****

Die Beurteilung berücksichtigt auch das Preis-/Leistungsverhältnis. Das günstige Lokal um die Ecke wird nach anderen Kriterien bewertet als ein Sternerestaurant. Der Test gibt Aufschluss über die Tagesform der Küche.