Rund um ein zerfallenes Gestüt können Spaziergänger die Seele baumeln lassen. Früher lebte hier eine echte Prinzessin ihre Liebe zu den Pferden aus. Sie liegt sogar auf dem Anwesen begraben. Unsere Serie über Lost Places in der Region.

Nur das Rauschen der Autos von der nahe gelegenen B 27 trübt das Idyll. Ansonsten kann man als Spaziergänger rund um die Ruinen des ehemaligen Gestüts bestens vom Alltagsstress abschalten. Kaum eine Menschenseele hat sich an diesem Donnerstagmittag bei Nieselregen in dem weitläufigen Park zwischen der Stresemannstraße und der Heilbronner Straße in Ludwigsburg verloren. Nur zwei Mädchen kauern auf dem Boden der einstigen Stallungen, daddeln ungestört auf einem Handy. Die Backsteinmauern links und rechts von ihnen sind übersät mit Graffiti, vereinzelt liegen Plastikflaschen und Papierfetzen auf dem Boden, Bäumchen und Sträucher überwuchern Teile des zerfallenen Bauwerks: Ein Lost Place wie aus dem Bilderbuch.

 

Dabei kann das ganze Anwesen auf eine stolze Historie zurückblicken, erlebte eine längere Blütezeit. Kein Geringerer als Wilhelm von Württemberg, erst Prinz und später König, lebte mit seiner 1877 geehelichten und schon 1882 verstorbenen Frau Marie zu Waldeck und Pyrmont zeitweise auf dem Gelände, ehe er 1891 ins pompöse Barockschloss übersiedelte. Wilhelm war es auch, der dem Landgut zu Ehren seiner Gattin seinen endgültigen Namen gab: Marienwahl.

Die einzelnen Boxen sind noch gut zu erkennen. Foto: Werner Kuhnle

Das markante Haupthaus oberhalb der Heilbronner Straße war um das Jahr 1824 von Ludwig Abel für General Ferdinand Varnbühler erbaut worden, im Volksmund wurde es auch als Varnbüler’sches Schlösschen bekannt. Wie Stadtführerin Sabine Deutscher berichtet, gaben sich in der Folge die Besitzer die Klinke in die Hand, mehrfach sei das stattliche Domizil zudem umgestaltet worden – bis schließlich Wilhelm einen Kaufvertrag unterzeichnete. Seiner Frau zuliebe sei er hierher gezogen. Sie habe das eher einfache Leben bevorzugt, habe weder im Schloss in Stuttgart noch in dem in Ludwigsburg wohnen wollen.

Lost Place war ein Gestüt

Ganz leicht und lückenlos lässt sich die Geschichte des Anwesens nicht nacherzählen, ein Standardwerk oder ein Fachaufsatz dazu liegen selbst im Ludwigsburger Stadtarchiv nicht vor, manches ist also im Vagen. Es sei aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewesen, als Wilhelm das Landgut um ein Gestüt erweitern ließ, sagt Sabine Deutscher. Seine Blütezeit erlebte das Gehöft später unter seiner Tochter Pauline. „Sie war eine resolute Dame, fuhr mit dem Einspänner auf Märkte einkaufen, hatte oft eher Hosen an als Röcke“, erklärt die Stadtführerin. Pauline habe außerdem die Volksnähe ihres Vaters geerbt – und dessen Leidenschaft für Pferde. Sie habe eine Zucht auf dem Gestüt betrieben, ging darin offenbar komplett auf.

Mal mehr, mal weniger begabte Graffiti-Künstler haben sich am Lost Place verewigt. Foto: Werner Kuhnle

Dieses große Faible für Rösser hat nicht nur in Form der verfallenen Stallungen Spuren auf Marienwahl hinterlassen. Die Prinzessin hat sogar ihre letzte Ruhestätte auf dem Gelände gefunden, nur etwa 100 Meter von den Backsteinruinen entfernt. „Sie wollte unter den Hufen ihrer Pferde beerdigt werden“, sagt Deutscher. Eine Ausnahmegenehmigung habe es möglich gemacht, erklärt die waschechte Ludwigsburgerin, die als Kind manchmal die Pferde auf der Weide gestreichelt hat.

Mit Paulines Tod 1965 war es aber auch mit der Herrlichkeit des Hofs vorbei. Der Betrieb sei aufgelöst, die Tiere zum Gestüt nach Marbach im Kreis Reutlingen gebracht worden. In den Stallungen sei später ein Feuer ausgebrochen, die Wohnung des Stallmeisters im oberen Geschoss den Flammen zum Opfer gefallen. Was den Brand überstand, dämmert seitdem im Dornröschenschlaf vor sich hin. Seit 1988 sei das ganze Landgut vorübergehend verlassen gewesen, berichtet Deutscher. Anfang der 90er-Jahre seien dann Pläne für eine Seniorenresidenz aufgetaucht, erinnert sie sich. Die Bagger rückten an, doch der Investor habe Insolvenz anmelden müssen, weshalb eine Bauruine auf dem Grundstück verblieben sei, die aber wieder abgerissen wurde.

Heute gehörten die früheren unter Denkmalschutz stehenden Stallungen sowie der öffentlich zugängliche Teil des Parks der Stadt Ludwigsburg. Die Gebäude auf dem Gelände seien im Eigentum einer Erbengemeinschaft und würden durch die Hofkammer des Hauses Württemberg verwaltet.

Geplatzte Pläne für Seniorenresidenz statt Lost Place

Die Natur hat sich Teile des Lost Place zurückerobert. Foto: Werner Kuhnle

Den verfallenen Stall erreicht man entweder über die Stresemannstraße von oben oder über ein Tor in der Marienstraße gegenüber der Feuerwache. Auf den ersten Blick könnte man meinen, man brauche aus Richtung Marienstraße einen Schlüssel, doch der Knauf lässt sich auch so betätigen. „Jeder darf rein“, beteuert Sabine Deutscher lächelnd. Die Ruine erreicht man nach einem kurzen Fußmarsch, der Weg führt schnurstracks darauf zu. Man muss kein Pferdenarr sein, um zu erkennen, dass in dem Gebäude einst Rösser beherbergt wurden. An den Boxen hat zwar der Zahn der Zeit genagt, doch die Trennstangen sind erhalten geblieben. Näher inspizieren lassen sich die einzelnen Unterstände nicht. Gitter und schwere Türen versperren den Zugang. Das gilt auch für den Keller, zu dem Treppenstufen hinabführen.

Lost Place mit kutschenfestem Boden

Dafür kann man über den unverwüstlichen Originalboden schlendern, der wie ein Steinbelag anmutet, aber aus Holz besteht. „Das kann man heute eigentlich gar nicht mehr bezahlen. Das ist das Allerinnerste vom Eichenbaum“, sagt Sabine Deutscher. Der harte Untergrund habe sogar den Rädern der Kutschen getrotzt. Mit ein bisschen Fantasie kann man sich das leicht vorstellen und sich ausmalen, wie Prinzessin Pauline hier einst einen Wagen anspannen ließ – bis einen der Geräuschpegel von der nahen Bundesstraße wieder ins Jahr 2024 und zu diesem Lost Place zurückholt.

Lost Places in der Region

Lost Places
Der Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen jedoch ihre geheimnisvolle Aura. Die Bezeichnung Lost Place ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.

Serie
In loser Folge stellen wir in den kommenden Wochen Lost Places in der Region Stuttgart vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.