Die Jüdin Miriam Weiss ist mit ihrer Familie vor Hitler und den Nazis geflohen. Da war sie neun Jahre alt. Inzwischen war sie schon mehrmals wieder zu Besuch in ihrer Geburtsstadt Ludwigsburg. Wie jetzt anlässlich der Gedenkveranstaltung zum Brand der Synagoge.

Ludwigsburg Für immer zurück nach Deutschland? Miriam Weiss (84) kann sich das nicht vorstellen. Aber sie kommt immer wieder in ihre Geburtsstadt. Auch weil hier ihre Schulfreundin Elli lebt, die damals zu ihr gehalten hat. Ein Gespräch über den Abschied von Deutschland und den schwierigen Neuanfang in Israel.
Frau Weiss, mit welchen Gefühlen sind Sie hier in Ludwigsburg?
Nicht mit leichten. Aber ich wollte trotzdem kommen. Ich bin nicht das erste Mal hier. Ich habe hier noch meine Freundin Elli, mit der ich in die Schule gegangen bin. Wir waren Freundinnen so wie unsere Mütter. Ich bin in Ludwigsburg nur ein Jahr in die Schule gegangen. Es gab eine Lehrerin, die hat gesagt: heute bekommst du Tatzen, weil du jüdisch bist. Ich kann mich auch erinnern, wie man mich aus der Schule rausgeschmissen hat. Aber das ist schon viele Jahre her.

Wann sind Sie aus Deutschland weggegangen?
Ich war neun Jahre alt, das war im Mai 1938. Wir gingen zusammen mit den Rexinger Juden. Da waren wir schon ein Jahr in Stuttgart, weil man uns aus unserer Wohnung in der Myliusstraße herausgeworfen hat. Mein Vater hatte in Stuttgart Brüder, bei denen wir gewohnt haben. Ich bin in der jüdischen Gemeinde dort zur Schule gegangen.

Haben Sie als Kind verstanden, warum Sie weggehen müssen?
Nein. Es war traurig, aber wir hatten keine Ahnung, warum wir wegmussten. In Stuttgart habe ich erlebt, was mir noch heute in Erinnerung ist. Ich musste mit meiner Schwester Medizin für meine Großmutter kaufen. Da haben wir Adolf Hitler gesehen, wie er die Königstraße runtergefahren ist. Da haben meine Schwester und ich gesagt: Wegen dem müssen wir weg.

Diese Ahnung hatten Sie?
Ja, auch wenn unsere Eltern nicht viel erzählt haben. Sie konnten es ja selbst nicht glauben, dass wir wegmüssen.

Aber Sie haben sehr überlegt gehandelt. Viele haben nicht geglaubt, dass ihnen etwas passiert.
Das ist meinen Eltern auch er st in Stuttgart gekommen. Da haben sich alle Brüder meines Vaters zusammengesetzt. Es war ja sehr teuer auszuwandern. 1000 britische Pfund hat man gebraucht. Aber die Familie hat uns geholfen. Wir sind durch die Schweiz nach Italien gefahren und dann mit dem Schiff. In Italien haben meine Schwester und ich Spaghetti bekommen, meine Eltern haben die belegten Brote von zu Hause gegessen.

Was haben Sie mitnehmen können?
Nicht viel. Meine Eltern haben eine Art Container gepackt. Meine Kinder haben die Möbel von damals sehr gerne, die heute wieder modern sind. Wir waren auch schon hier, um unsere Wurzeln zu sehen und zu zeigen, dass es auch andere Menschen gibt – und nicht nur Nazis.

Es war wahrscheinlich kein leichter Neuanfang in Shavei Zion?
Meine Eltern waren schon 50. Wir sind erst mit ihnen in ein Heim nach Haifa gekommen. Meine Eltern sind dann nach Shavei Zion gegangen, um die Siedlung aufzubauen. Dabei hat man uns Kinder nicht brauchen können. Da war ja nur Sand und Wüste. Sie hatten nach britischem Recht 24 Stunden Zeit, eine Siedlung zu errichten. Darum haben sie schnell an einem Tag eine Umgrenzung und einen Wachturm gebaut. Sie haben in Baracken gewohnt. Wir sind dann noch ein Jahr in einem Heim geblieben und haben dort Hebräisch gelernt.

Hatten Sie Heimweh?
Nach unseren Eltern schon. Aber nicht nach Deutschland. Wir waren so beschäftigt mit uns.

Wann haben Sie denn wieder von Ihrer Freundin gehört?
Erst Jahre nach dem Krieg. Ich hatte eine Tante, die ist 1956 nach Deutschland gefahren und hat Grüße von mir ausgerichtet. So haben wir wieder Kontakt zueinander bekommen.

Haben Sie in Israel erfahren, dass die Synagogen in Deutschland gebrannt haben?
Nein. Erst viel später. Die Nachrichten haben ja lange gebraucht.

Haben Sie jemals überlegt, für immer wieder zurück nach Deutschland zu gehen?
Ganz? Nie wieder. Ich komme gern zu Besuch. Vielleicht bin ich patriotisch. Aber ich glaube, für uns Juden gibt es nur einen Platz: Israel. Auch wenn wir zusätzlich zur israelischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Meine Eltern haben nie Ivrit gelernt. So konnten sich die Enkel nicht mit den Großeltern unterhalten. Aber ich hätte mir auch nicht getraut, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen.

Haben Sie sich versöhnt mit Ihrer Geschichte? Haben Sie Frieden gefunden?
Ja. Ich habe in Israel jetzt wieder andere Sorgen. Und in Deutschland lebt eine neue andere Generation. Die kann man nicht für das verantwortlich machen, was Hitler und seine Bande angerichtet haben. Aber man darf es nicht vergessen.

Deutschland
Miriam Weiss floh mit ihr Familie 1938 aus Deutschland. Alle Familienmitglieder haben überlebt.

 

Israel
Die Juden aus Rexingen gründeten 1938 Shavei Zion (heute 850 Einwohner). Weiss lernte dort ihren Mann kennen. Sie haben zwei Söhne, fünf Enkel und zwei Urenkel.

Gedenken
Am Samstag um 18 Uhr spricht Miriam Weiss auf dem Synagogenplatz (Alleen-/Solitudestraße) auf Einladung des Arbeitskreises „Dialog Synagogenplatz“. Am 10. November 1938 schauten die Ludwigsburger tatenlos zu, wie die Synagoge brannte .