Die beiden Friedensnobelpreisträger Malala Yussufzai und Kailash Satyarthi sind Mahner, die ihr Leben riskieren, um Probleme aufzeigen.

Neu-Delhi - Es schien unmöglich. Aber irgendwie überwand der Fahrer mit seinem sperrigen Ambassador – Mitte der 90er Jahre Indiens Allzweckauto – die tiefen Furchen, die Ochsenkarren in die Feldwege gegraben hatten. Erst in Sichtweite des Ziels nahe der indischen Stadt Varanasider kapitulierte der Fahrer. Kailash Satyarthi lief zu der kleinen Ansammlung von niedrigen, fensterlosen Gebäuden. Draußen wartete der Inhaber. Im Halbdunkel des Gebäudes hockten ein paar halbwüchsige Mädchen an Webstühlen und fertigten Teppiche. Sie sollten befreit werden.

 

Es war ein Dorf, in dem sich all die Missstände fanden, denen der 1954 geborene Kailash Satyarthi seit Anfang der 90er Jahre den Kampf angesagt hatte. Er ging von Haus zu Haus, um Kindersklaven zu befreien und ihnen den Schulbesuch zu ermöglichen anstelle ihrer gesundheitsschädigenden Arbeit.

„Kailash Satyarthi stand damals einer Vereinigung von rund 100 Gruppen vor, die Kinderarbeit bekämpften“, erinnert sich am Freitag nach der Verleihung des Friedensnobelpreises der Deutsche Dietrich Kebschull von der Stiftung „Indo German Export Promotion“. Kebschull baute Anfang der 90er Jahre mit Satyarthi die Organisation „Rugmark“ zur Verhinderung von Kinderarbeit in der Teppichindustrie auf, „er war ein Ankläger und ist es geblieben.“

Satyarthi reagierte auf die Nachricht überwältigt. Foto: AP

Den Friedensnobelpreis teilt sich der 60-jährige Familienvater aus Delhi mit einer jungen Frau, die seit dem 9. Oktober 2012 als wandelnde Anklage die Welt gegen die barbarischen Absichten der radikalislamischen Talibanmilizen aufrüttelt. Damals versuchten zwei Killer der Gruppe die gerade einmal 14-jährige Malala Yousafzai zu ermorden – 100 Meter von der Schule entfernt, die das Mädchen besuchte. Ein Schuss traf sie über dem linken Auge und verletzte im Hirn das Sprach- und das Bewegungszentrum für den rechten Arm. Die junge Frau überlebte, weil sie eiligst in ein Spezialkrankenhaus in der britischen Stadt Birmingham gebracht wurde. Selbst der damalige Armeechef Ashfaq Pervez Kayani schaltete sich ein, um ihr Leben zu retten.

Malala berichtete für BBC über den Alltag unter den Taliban

Malala, die jüngste Preisträgerin in der Geschichte des Friedensnobelpreises, hatte sich den Zorn der fanatischen Extremisten zugezogen, weil sie öffentlich für das Recht auf Erziehung eingetreten war, dass die Milizen Frauen verweigern wollen. Mit Hilfe ihres Vaters, dem Leiter einer Schule in Malalas Heimatstadt Mingora, war sie in den Jahren zuvor heimlich und anonym als Bloggerin beim britischen Rundfunk- und Fernsehsender BBC tätig. Sie berichtete über den grauenvollen Alltag unter der Knute der Talibanmilizen, die das Tal 2007 besetzt hatten.

Die Fanatiker wurden von jenem Kommandeur mit dem Spitznamen „Mullah Radio“ geführt, der richtig Qari Fazlullah heißt und in der vergangenen Woche als Chef der „Tehreek-e-Taliban Pakistan“ (TTP) seine Unterstützung für die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) verkündete.

Malala Yussufzai hat bereits ein Buch geschrieben. Foto: EPA

Die Gruppe bekämpft nicht nur den Schulbesuch aller Mädchen in ihrem Herrschaftsbereich. Sie verhindert auch nach Kräften, dass die Kinder gegen Kinderlähmung geimpft werden. Die Taliban verhindern, dass Helfer alle der rund 34 Millionen pakistanischen Kinder erreichen. 60 Ärzte und Helfer wurden von den Milizen seit dem Jahr 2012 ermordet. Sie schieben zwei Gründe für ihre Bluttaten vor. Der nordamerikanische Geheimdienst CIA hatte bei seiner Suche nach Al-Kaida-Gründer Osama bin Laden mit Hilfe eines pakistanischen Arztes eine Impfkampagne getürkt, um Informationen zu sammeln. Außerdem behaupten sie, mit der Polio-Impfung sollten islamische Frauen unfruchtbar gemacht werden.

Die bizarre Einstellung erschwert das Leben einer Altersgruppe, die es in Südasien ohnehin schwer genug hat. Kinder unter 14 Jahren stellen rund ein Drittel der Bevölkerung im 170 Millionen Einwohner zählenden Pakistan und in Indien mit seinen knapp 1,3 Milliarden Einwohnern. Fast die Hälfte aller Mädchen in Südasien werden zwangsverheiratet, bevor sie das Alter von 18 Jahren erreicht haben. Im Jahr 2005 gab es in der Region 26 Millionen Kinder, die nicht zur Schule gehen konnten. 38 Prozent leiden an chronischer Unterernährung, zwei Millionen sterben, bevor sie fünf Jahre alt werden.

Malala kann nicht in ihre Heimat zurückkehren

Die heute 17-jährige Malala ist nicht nur ein Beispiel für den Mut, mit dem junge Frauen sich in der konservativen pakistanischen Gesellschaft gegen die unheimliche Mischung aus Aberglauben und fehlgeleitetem religiösem Starrsinn wehren. Mädchen wie Malala träumen von der Flucht aus traditionellen Verhältnissen. Dazu brauchen sie Bildung. Malala kämpft für dieses Recht und verschreckt dabei nicht nur Talibankämpfer. Schließlich sind Frauen heutzutage von Pakistan bis nach Japan die energiegeladenen und dynamischen Triebfedern der Gesellschaft. Die Männer neigen dagegen fast auf dem kompletten Kontinent dank althergebrachter Verhaltensmuster und Privilegien zur Bequemlichkeit.

Seit dem Attentat tourt die junge Frau um die Welt – wenn die Schule es zulässt. Foto: dpa

Malala, die schon 2013 als heimliche Favoritin auf den Friedensnobelpreis galt, profitierte bei der Auszeichnung auch von der gewitzten Werbekampagne, die ihr Vater geschickt mit der BBC plante. Das Mädchen trat sogar vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen auf. Pakistans Medien feierten die Preisverleihung. Doch in ihre Heimat kann sie nicht zurückkehren. Das Risiko ist zu groß.

Es mag ein weiter Weg von Malalas alter Heimat im Swat-Tal bis zu der in der Hitze flimmernden staubigen Ebene vor den Toren der heiligsten hinduistischen Stadt Varanasi am Ufer des Ganges sein. Kailash Satyarthi muss auch nicht die Vergeltung der Talibanmilizen fürchten. Aber ein gern gesehener Gast ist der Mann, der sich auf seiner eigenen Webseite „Sucher der Wahrheit“ bezeichnet, in der Umgebung bei den Teppichherstellern von Varanasi nicht.

Satyarthi: Friedensnobelpreis ist ein „Preis für die Kinder“

„Er hat nie mit Vorwürfen an die Adresse der Arbeitgeber gezögert“, erinnert sich Dieter Kebschull gegenüber dieser Zeitung an die gemeinsamen Tage Anfang der 90er Jahre bei der Gründung von Rugmark. In der Organisation, deren Zertifikate und Arbeit bis heute als Vorbild für ähnliche Versuche in anderen Industrien gelten, arbeiten Teppichhersteller, Grabsteinproduzenten, Exporteure und Menschenrechtsgruppen zusammen, um Kinderarbeit zu verhindern.

Der Aufbau war eine mühselige Angelegenheit und Satyarthi, ganz der Aktivist einer Nicht-Regierungsorgansiation, zeigte dabei weniger Einsatzwillen als in seiner Rolle als Mahner und Ankläger. Termine mussten mit ihm schon damals vier bis sechs Wochen vorher abgesprochen werden. Den Arbeitgebern war er nicht geheuer. Am Freitag beschreibt Satyarthi den Friedensnobelpreis, den er sich mit Malala teilt, als „Preis für die Kinder“. Mit Eigenlob spart Satyarthi nicht. Seit den 80er Jahren, so heißt es vollmundig auf seiner eigenen Webseite, gehört er weltweit zur vordersten Front der Kämpfer gegen Kinderarbeit. 80 000 Kinder, so heißt es in manchen Veröffentlichungen, hat der Mann mit dem sympathischen Lächeln während seines Aktivistenlebens befreit.

Die Zahl erscheint angesichts des übervölkerten Indien als Tropfen auf den heißen Stein. Aber das Wort von der Befreiung könnte nicht besser gewählt sein. Denn viele Kinder, die in Asien unter teilweise menschenunwürdigen Verhältnissen schuften müssen, haben keine Wahl. Sie sind halb Sklaven, halb Zwangsarbeiter. Sie müssen an Webstühlen Teppiche knüpfen, in Ziegeleien und Steinbrüchen Steine schleppen oder in dunklen Werkstätten Kleider fertigen. Ihr Schicksal machte der frischgebackene Friedensnobelpreisträger zu seinem Lebensthema. Das Haus, in dem er in Delhi mit seiner Frau, der Tochter, seinem Sohn und seiner Schwiegertochter lebt, teilt er sich mit Kindern, die er aus dem Joch der Zwangsarbeit befreit hat.