In seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat der muslimische Schriftsteller Navid Kermani ein düsteres Bild der islamischen Welt gezeichnet. Am Ende ruft er die Gäste in der Frankfurter Paulskirche zum Gebet.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Letztes Jahr im Bundestag, dieses Jahr in der Paulskirche: Der Schriftsteller, Orientalist und Reporter Navid Kermani entwickelt sich zu einem säkularen Prediger in den Kathedralen des parlamentarischen Selbstverständnisses Deutschlands. Sein bewegender Auftritt im Mai 2014 vor den Bundestagsabgeordneten anlässlich des 65-jährigen Geburtstags des Grundgesetzes hat Epoche gemacht. Er erinnerte damals Deutschland an seine Verantwortung angesichts von Millionen Flüchtlingen aus den Krisenländern des Nahen Ostens.

 

In der Zwischenzeit hat sich die Situation weiter verschärft. Am Tag vor der Verleihung des Friedenspreises in Frankfurt an Kermani ist die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker offensichtlich aus fremdenfeindlichen Gründen niedergestochen worden. Es gärt im Land. Und wie um das zu unterstreichen, dringt in die Weihe des Festakts in der Paulskirche immer wieder beunruhigender Rumor von Martinshörnern. In solch einer Situation bedarf es besonnenerer Töne, die hinter das Formelwesen dringen, in dem derzeit das menschlich Gebotene mit dem politisch Opportunen ausgemittelt wird.

In der Paulskirche tagte einst das erste deutsche Parlament. Zuvor war es die evangelisch-lutherische Hauptkirche der Stadt Frankfurt. Nun ist der ehrwürdige Bau um einen großen Moment seiner Geschichte reicher. Der gläubige Muslim Kermani rückt die ursprünglich sakrale Funktion der Paulskirche wieder in den Vordergrund. Dies, obwohl an dieser Stelle selten eine Rede so eindringlich im Hier und Jetzt verankert worden sein dürfte, wie die des 1967 in Siegen geborenen Sohnes einer aus dem Iran eingewanderten Familie.

Das Kloster in der Wüste

Mit „Hyperions Schicksalslied“ von Hölderlin umreißt der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, die Ausgangslage: Droben im Licht, auf weichem Boden, die Himmlischen, drunten die leidenden Menschen, „blindlings von einer / Stunde zur andern, / wie Wasser von Klippe / zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab.“

Diese Sphären gilt es miteinander zu vermitteln, Dichtung, Religion, Politik und das Elend derer, die im Schatten wohnen. Niemand kann darüber ähnlich glaubwürdig den Bogen schlagen, wie der diesjährige Friedenspreisträger, niemand, außer vielleicht jener syrische Pater Jacques, in dessen Geschichte Kermani seine Dankesrede einbettet.

Am gleichen Tag, als Kermani die Nachricht seiner Auszeichnung erhielt, wurde der katholische Geistliche vom sogenannten „Islamischen Staat“ entführt. Lesern von Kermanis islamisch-christlichen, unter dem Titel „Ungläubiges Staunen“ jüngst veröffentlichten Bildbetrachtungen ist die Glaubensgemeinschaft Mar Musa bereits ein Begriff. Das Kloster in der syrischen Wüste ist zu einem Treffpunkt der Religionen geworden, wo arabische Muslime ihren christlichen Geschwistern begegnen konnten. Ein utopischer Ort endzeitlicher Versöhnung, aber zugleich auch radikaler Gefährdung.

Der Katalog des Grauens ist lang

Kermani wählt für den christlichen Pater, der sich noch im Angesicht der Fratze selbst ernannter Gotteskrieger um das Bild der anderen Religion sorgt, den Ton einer modernen Heiligenvita. Doch was sich der Christ versagt, muss der Muslim Kermani vollziehen: die Kritik dessen, was aus dem Islam heute geworden ist. „Wer als Muslim nicht mit dem Islam hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.“

Und so ist ein Teil dieser großen Rede die nüchterne Bestandsaufnahme eines Niedergangs. Der Katalog des Grauens ist lang: „In Afghanistan werden Frauen gesteinigt, in Pakistan Schulklassen ermordet, in Libyen Christen geköpft, in Bangladesch Blogger erschossen, in Somalia Bomben auf Marktplätzen gezündet, in Mali Sufis und Musiker umgebracht, in Saudi-Arabien Regimekritiker gekreuzigt.“ Kermani vergleicht die gegenwärtigen Verwerfungen in der islamischen Welt mit dem Ersten Weltkrieg, nichts sei danach mehr so wie zuvor. Der multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Orient, immer bedroht, niemals heil, aber doch quicklebendig sei unwiderruflich dahin – Opfer nicht eines Krieges des Islams gegen den Westen, sondern des Islams gegen sich selbst.

Während sich hier rechte Kreise mit der Idee einer Islamisierung des Abendlandes aufstacheln, sieht Kermani ganz im Gegenteil den „religiösen Faschismus“ des IS als Endpunkt einer langen Abwärtsbewegung. Und so wie die Rassenlehre den früheren unterfüttert, bildet die vom westlichen Verbündeten Saudi-Arabien ausgehende Ideologie des Wahabismus den Nährboden des gegenwärtigen: „Gesponsert mit Milliardenbeträgen aus dem Öl hat sich über Jahrzehnte in Moscheen, in Büchern, im Fernsehen ein Denken ausgebreitet, das ausnahmslos alle Andersgläubigen zu Ketzern erklärt, beschimpft, terrorisiert und beleidigt.“

Der Westen habe nur zugeschaut

Die Vergangenheit des Islam ist mit der Gegenwart nicht mehr zusammenzubringen, sagt der habilitierte Islamwissenschaftler. Vielleicht sei das Problem weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, die kulturelle Amnesie.

Doch der Hölderlin-Leser kennt auch den Umschlagpunkt von Gefahr in das Rettende. Der Schock über die Gräueltaten der islamistischen Terror-Sekte mobilisiere Gegensätze. Und Kermani erinnert an das große europäische Einigungswerk auf den Trümmern zweier Weltkriege, „das politisch Wertvollste, was dieser Kontinent je hervorgebracht hat“: „Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung, die Europa immer noch ist.“ Szenenapplaus. Navid Kermani würdigt das Engagement für Flüchtlinge, mahnt jedoch im Blick auf die Ursachen des Terrors eine politischere Haltung an. Der Westen habe dem Assad-Regime beim Mord am eigene Volk nur zugeschaut und damit die Katastrophe vor unseren Grenzen mitbefördert. Nun gewöhne man sich an die Geisel des IS, doch eine Organisation mit 30 000 Kämpfern sei für die Weltgemeinschaft nicht unbesiegbar.

„Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen?“, fragt Kermani. Nein. Aber hinweisen, dass es einen Krieg gibt, darf er schon. Und so ruft Kermani am Ende nicht zum Krieg, sondern zum Gebet auf. Gebete seien nichts anderes als an Gott gerichtete Wünsche. Vereint in stillen Wünschen für die Geiseln der Gemeinschaft von Mar Musa, für die Freiheit Syriens und des Iraks stehen die rund tausend Zuhörer, darunter viel politische Prominenz unter der Kuppel der Paulskirche. Ein bewegendes Bild der Brüderlichkeit gegen die blutige Propaganda der Terroristen.