Eine Vergewaltigung ist ein medizinischer Notfall. Der Rems-Murr-Kreis beteiligt sich am Projekt „Soforthilfe nach Vergewaltigung“, damit Betroffene künftig besser medizinisch versorgt werden – auf Wunsch mit Spurensicherung.

Leserredaktion : Kathrin Zinser (zin)

Rems-Murr-Kreis - Angst, Scham, Schuld – viele Frauen empfinden solche Gefühle, wenn sie vergewaltigt worden sind. Das hat auch damit zu tun, dass sich in rund 80 Prozent aller Vergewaltigungsfälle Täter und Opfer bereits kennen, erklärt Grit Kühne, Sozialpädagogin bei der Anlaufstelle gegen sexualisierte Gewalt des Kreisjugendamts im Rems-Murr-Kreis. Die meisten Opfer von Vergewaltigungen haben Kühnes Erfahrung nach zunächst das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Sie wollen nicht, dass andere von dem Verbrechen erfahren, sie machen sich Vorwürfe – etwa, weil sie mit dem Täter nach Hause gegangen sind – und fühlen sich mitschuldig. In dieser Situation schaffen es viele Frauen nicht, Anzeige bei der Polizei zu erstatten, auch weil die Vorstellung, das Erlebte in allen Einzelheiten erzählen zu müssen, sie abschreckt. Wenn sie sich einige Zeit nach der Vergewaltigung stabilisiert haben und die Tat doch anzeigen möchten, ist es für eine Spurensicherung allerdings zu spät.

 

Beweise sind wichtig vor Gericht

Ohne Beweise steht vor Gericht dann aber in der Regel Aussage gegen Aussage – „und dann ist es sehr schwer“, sagt Grit Kühne. Doch das ist nicht das einzige Problem: Viele vergewaltigte Frauen scheuen selbst den Gang in eine Klinik – etwa aus Angst, dass die Ärzte direkt die Polizei einschalten. Und auch in den Krankenhäusern läuft es nicht immer rund: so wurden schon Frauen an der Pforte abgewiesen, mit dem Hinweis, sie sollten in Begleitung der Polizei wiederkommen.

Um die Situation der Betroffenen zu verbessern nimmt der Rems-Murr-Kreis als Modellregion am Projekt „Soforthilfe nach Vergewaltigung“ teil. An diesem Montag, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, startet das neue Angebot. Künftig können sich – auch männliche – Vergewaltigungsopfer rund um die Uhr vertraulich an das Rems-Murr-Klinikum Winnenden wenden. Dort werden sie medizinisch versorgt und können auf Wunsch zudem Spuren sichern lassen – und zwar ohne, dass direkt Anzeige erstattet werden muss. Die Beweismittel werden dann ein Jahr lang im Institut für Rechtsmedizin in Heidelberg aufbewahrt. Somit gewinnen die Frauen Zeit, in der sie sich überlegen können, ob sie doch noch Anzeige erstatten möchten. „Das ist eine Erleichterung“, sagt Grit Kühne.

Spurensicherung ohne die Polizei

Den Stein ins Rollen gebracht hat Uwe Belz, Kriminalhauptkommissar und Opferschutzbeauftragter bei der Kriminalpolizeidirektion Waiblingen. Er hatte vor einigen Jahren mit einem Fall zu tun, in dem eine Jugendliche vergewaltigt worden war. Ihre Mutter wollte, dass die Spuren gesichert werden – ohne Hinzuziehung der Polizei. Das war nicht möglich. Daraufhin gründete sich eine Arbeitsgruppe, der neben Belz und Kühne die Chancengleichheitsbeauftragte des Landratsamts, Vanessa Mauser, sowie Stefanie Grüneklee, Oberärztin in der Gynäkologie des Rems-Murr-Klinikums Winnenden, angehörten. „Alle waren schnell dabei“, sagt Belz, und auch die übrigen Verantwortlichen betonen die gute Zusammenarbeit. Auf der Suche nach Lösungen stieß die Gruppe auf das sogenannte Frankfurter Modell – und entschied sich, es für den Rems-Murr-Kreis zu übernehmen.

„Das ist extrem gut ausgearbeitet“, begründet die Gynäkologin Grüneklee die Entscheidung. Mit den Dokumentationsbögen und Formulierungshilfen sei es nun leichter, Beweise gerichtsfest zu sichern. „Für die Ärzte gibt es damit einen ganz klaren, standardisierten Ablauf, wie die Untersuchung zu erfolgen hat. Da war davor oft eine gewisse Unsicherheit da“, erklärt sie. Wie sollen Spuren forensisch korrekt beschrieben werden? In welchem Winkel muss ein Foto aufgenommen werden? Wurde etwas vergessen? Mit dem neuen Verfahren könnten die Ärzte nun besser zu einer guten Spurensicherung beitragen, sagt Grüneklee. Dadurch würden auch mehrfache, oft sehr belastende Untersuchungen und Befragungen der Frauen vermieden.

Alle Medikamente gibt es in der Klinik

Im Fokus steht jedoch die gute medizinische Versorgung der Vergewaltigungsopfer. So erhalten sie künftig alle benötigten Medikamente direkt vor Ort und müssen nicht noch zusätzlich eine Apotheke aufsuchen. „Es geht darum, dass zumindest die körperliche Integrität der Frauen wiederhergestellt wird“, betont Grüneklee. Willigt die Betroffene ein, stellt das Krankenhaus zudem den Kontakt zu einer Beratungsstelle her – um die unter 21-Jährigen kümmert sich die Anlaufstelle gegen sexualisierte Gewalt des Kreisjugendamts, alle anderen können Unterstützung durch das Projekt Flügel von Pro Familia Waiblingen erhalten, das ebenfalls in das neue Angebot involviert ist.

Der Rems-Murr-Kreis finanziert die Soforthilfe mit rund 10 500 Euro im ersten Jahr, für die Folgejahre werden je 7000 Euro veranschlagt, etwa für die Spurensicherungskits und den Transport der Beweismittel in die Rechtsmedizin nach Heidelberg.