Die stellvertretende Chefredakteurin der „Elle“ Sophie Fontanel hat sich eine zehnjährige sexuelle Auszeit genommen und es nicht bereut. In ihrem neuen Buch „Das Verlangen“ schreibt sie charmant-witzig über diese Zeit.

Paris - Das Bild, das man sich von ihr gemacht hat, ist falsch. Die Fragen, die man ihr stellen wollte, sind die falschen. Kaum hat sie das Café betreten, ist das offenkundig. Sophie Fontanel, die Erfolgsschriftstellerin, die so erfrischend natürlich Gefühle schildern kann, die Modejournalistin, die der Zeitschrift „Elle“ als stellvertretende Chefredakteurin neue Wege weist – sie kommt daher wie eine Gouvernante. Die Bluse hochgeschlossen, der Kragen steif, darüber einen marineblauen Allerweltspullover, wie Herren ihn tragen, die nicht auffallen wollen, so erscheint sie im Pariser Café Coupe d’Or. Und dann sagt sie auch noch, ihr neuestes Buch, das vom Sexverzicht einer Frau ihres Alters handelt, sei keineswegs autobiografisch, auch wenn dies allseits behauptet werde.

 

Keine lustfeindliche Lektüre

Vor dem Rendezvous war die Welt noch in Ordnung gewesen oder jedenfalls geordneter. In einer Gesellschaft, in der als Versager gilt, wer kein erfülltes Sexualleben hat oder zumindest behauptet, eines zu haben, hat Fontanel sich zu zehn Jahren sexueller Enthaltsamkeit bekannt und charmant-witzig beschrieben, wie ihr dabei zumute war. So stand es in Vorankündigungen zu „Das Verlangen“. Das Buch hatte das   Versprechen aufs Angenehmste eingelöst. Fontanels Chronik einer sexuellen Auszeit ist keine lustfeindliche Lektüre. Wenn die Ich-Erzählerin Verzicht geübt hat, dann weil sie Lust darauf hatte: Lust, Nein zu sagen, wo sie früher viel zu oft Ja gesagt hatte. Lust, im Bett nicht mehr Lust vorzutäuschen, wo keine war. Lust, das Tabu einzureißen, dass sexuell alles erlaubt ist, nur nicht, keinen Sex zu haben. Und nun hat Sophie Fontanel offenbar Lust, mit allem aufzuräumen, was über sie und das Buch gesagt und geschrieben wurde.

Wirklich nicht autobiografisch? „Das ist ein Roman“, versichert die 50-Jährige mit ernstem Blick aus dunklen Augen, „also Fiktion“. Die Personen, die im Buch auftauchten, gebe es nicht, sie seien frei erfunden. Also gut. Dann mag sie vielleicht ohne Rücksicht auf Buch und Biografie sagen, was eine Frau dazu bringen kann, Sexverzicht zu üben, zehn Jahre lang dicht zu machen, in einem Land wie Frankreich zumal, das als besonders sinnenfreudig gilt. Der Französin fällt eine Menge dazu ein. Von der Verlogenheit beim Sex erzählt sie, die einem die Freude daran verleiden könne. „Die Leute wissen, dass Sex sie oft nicht glücklich macht, dass im Bett ständig Kompromisse geschlossen werden, aber das sagt niemand, alle lügen.“ Enttäuschte redeten sich ein, Sex sei Gymnastik. Wenn man viel übe, bringe man es zur Vollendung, werde ein guter Liebhaber, eine gute Geliebte. Als ob jemand, der jeden Tag Liebe mache, sie nicht jeden Tag schlecht machen könne.

Schlechte Erfahrungen mit Männern

Andere Frustrierte rechtfertigten öde Bettroutine mit der Behauptung, Sex sei gesund. „Wenn das stimmte, wären Prostituierte die gesündesten Menschen der Welt und würden 140 Jahre alt“, sagt Fontanel und lacht. Für nicht minder falsch hält sie die verbreitete Vorstellung, schöne Menschen hätten schönen Sex. „Ich habe bei ,Elle‘ jede Menge schöne Männer und Frauen kennengelernt“, sagt sie. „Und ich habe gelernt, dass das nicht stimmt.“ Das Gegenteil sei richtig. Schönen Menschen falle es oft besonders schwer, loszulassen, sich der Lust hinzugegeben. Nicht zu vergessen die Angst. „Auch sie schmälert das Vergnügen“, glaubt Fontanel. Sie verweist auf „die Angst der Frau vor dem Eindringen des Mannes, die Angst vor Schwangerschaft, die Angst des Mannes, zu versagen“.

Und auf einmal ist die Französin dann doch bei sich angelangt, bei der eigenen Angst. Fontanel erzählt von einem 27-jährigen Touristen, den sie als frühreife 14-Jährige kennengelernt hat. Der Fremde habe ihr Verlangen gespürt, sie in ein Pariser Hotel mitgenommen, das späte Nein der erst neugierigen, dann verängstigten Sophie nicht Ernst genommen. Als erwachsene Frau sei es ihr ähnlich ergangen. Ihr zaghaftes Nein sei überhört worden. Bis der Körper irgendwann gestreikt habe, bis es „beim besten Willen nicht mehr ging“. Zehn Jahre habe die innere Blockade angehalten. Dann sei das Verlangen zurückgekehrt, in zuvor nicht gekannter Klarheit. Dann habe sie sich erstmals wieder verliebt. Warum gerade dann, nach zehn langen Jahren? Fontanel lächelt, zuckt mit den Schultern, schweigt, sagt: „Es hätte auch früher passieren können, ist es aber nicht.“ „Das ist dann aber auch die einzige Parallele zwischen dem Buch und mir“, fügt sie hinzu.

Fontanel will sich in keine Schublade zwängen lassen

Anders als die Ich-Erzählerin in „Das Verlangen“ habe sie sich für ihr fehlendes Begehren geschämt und keiner Menschenseele davon erzählt. Sie habe Liebhaber erfunden, Freunde und Bekannte in amouröse Abenteuer eingeweiht, die es nicht gab. Irgendwann fiel trotzdem auf, dass da an Fontanels Seite keine Männer mehr waren. „Freundinnen haben vermutet, ich sei lesbisch, stünde aber nicht dazu“, erzählt sie. „Aber ich bin nicht lesbisch, ich bin nur einfach gern allein, vor allem aber bin ich gern frei.“ Eben noch Widersprüchliches erscheint nun stimmiger. Fontanel mag sich keusch kleiden oder aufreizend, Sexverzicht üben oder ihn einer Romanfigur andichten: Dahinter steht allemal Freiheitsliebe, der Willen, sich nicht in Schubladen zwängen zu lassen. Nicht in die Schublade der extravaganten Modejournalistin, die sich unweit der von Luxusboutiquen gesäumten Pariser Rue Saint-Honoré eine Bleibe gesucht hat. Nicht in die Schublade der Frau, die keinen Sex hatte und das auch noch schön fand. Die in Paris geborene Tochter einer Armenierin und eines Franzosen will sich nicht festlegen lassen, als Schriftstellerin nicht, als Mensch schon gar nicht. „Ich bin irritierend für alle“, sagt sie.

Hinzuzufügen wäre: Sie ist es gern und will es bleiben. Und ist nicht auch die Auswahl der Themen, denen sich die als Linguistin ins Erwerbsleben gestartete Schriftstellerin zuwendet, ein Kampf gegen einengende Klischees? In „Grandir“ (Erwachsen werden), dem 2010 erschienenen Buch, hatte Fontanel sich zu ihrer engen Mutterbindung bekannt, war „ganz die Mama“ gewesen. In „Das Verlangen“ zeigt sich die Autorin weitgehend bindungslos, ohne Partner, ohne Liebhaber. Als nächstes werde sie ein ganz anderes Thema aufgreifen, kündigt sie an. Bestimmt wird es wieder eines sein, das so gut wie nichts mit ihr zu tun hat.