Das Stadtmuseum zeigt, wie schwer es für Vertriebene war, nach dem Krieg Fuß zu fassen. Die Alteingesessenen hatten Angst vor Überfremdung und zeigten Ablehnung. Es gibt aber auch Beispiele für ein Happy End. Manche Flüchtlinge heirateten Einheimische.

Nürtingen - Flüchtlingselend aus der Nachkriegszeit ist mittlerweile schon fast in Vergessenheit geraten. Ein anschauliches Bild von den Zuständen, die nach dem Zweiten Weltkrieg hier herrschten, vermittelt jetzt die neue Sonderausstellung „Liebe auf den zweiten Blick“ im Stadtmuseum Nürtingen. Sie wirft Schlaglichter auf das Schicksal der Heimatvertriebenen, die es mit dem Neubeginn in der Fremde äußerst schwer hatten.

 

Da ist zum Beispiel die Familie Kröner. Im Januar 1945 werden die Mutter, die Oma und der fünf Jahre alte Otto vor der heranrückenden Roten Armee weggebracht. Ende April verfügt die tschechische Verwaltung einen dreitätigen Fußmarsch zum alten Wohnort Jägerndorf in Nordmähren.

Die Überlebenden des 90-Kilometer-Marsches landen im gefürchteten „Troppauer Lager“. Nach einem Jahr folgt dann die Vertreibung. In Viehwaggons geht es über Prag und Furth im Walde nach Malmsheim (damals Kreis Leonberg). Im Sommer 1946 werden die Kröners in der ehemaligen Fremdarbeiterbaracke der Rüstungsfirma Norma in Neckartenzlingen untergebracht. Die Unterkunft ist verwanzt und verlaust. In den ersten drei Tage gibt es für die Flüchtlinge nichts zu essen – außer ein paar grünen Äpfeln.

Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal

Der beratende Arzt für das Flüchtlingswesen im Stuttgarter Innenministerium, schreibt in einem Bericht vom 1. Oktober 1946 am Beispiel des Mühlwiesenlagers in Nürtingen: „Toiletten und Waschgelegenheiten sind als völlig unzureichend zu bezeichnen. Die Sauberkeitsverhältnisse sind verheerend. Um die Lager herum befinden sich Abfallhaufen, die unkontrolliert und unbeachtet faulen, die Luft verpesten und die Fliegen anziehen.“

Im Juni 1948 stirbt Ottos Mutter infolge der Leiden in dem tschechischen Lager. Otto bleibt bei seiner Oma und zwei Tanten. Unweigerlich kommt einem an dieser Stelle das Schicksal des Flüchtlingsjungen Peter Härtling in den Sinn. Die traumatisierte Mutter des späteren Autors, der im November 80 Jahre alt wird, hat sich im Oktober 1946 in Nürtingen das leben genommen.

Die Einheimischen haben Angst vor „Überfremdung“

So wie die Härtlings sind auch andere Flüchtlingsfamilien vielfach auf Abneigung gestoßen. Die Familie von Liesl Phoenix erhielt im Herbst 1946 eine kleine Wohnung im Obergeschoss eines schönen Hauses zugewiesen. Die Vermieterin aber empört sich darüber, dass man ihr so „hergelaufene Zigeuner“ in ihr Haus einweist. Die Angst vor „Überfremdung“ ist groß, macht die sehenswerte, gemeinsam mit dem Nürtinger Haus der Heimat erarbeitete Ausstellung deutlich. Integration wird zu einer Lebensaufgabe. Um zehn Prozent liegt die Zahl der Flüchtlinge in Nürtingen über dem Landesdurchschnitt. Nach 1945 muss Nürtingen innerhalb von zwei Jahren einen Bevölkerungszuwachs von einem Drittel verkraften.

Liebe auf den ersten Blick ist es nicht gewesen, dafür auf den zweiten. Happy End: gezeigt werden auch die Beispiele von Alteingesessenen und Zugezogenen, die sich kennen und lieben lernten und heirateten. Neben Schautafeln stehen im Museum Vitrinen mit Gegenständen, die die Flüchtlinge im Gepäck hatten, darunter ein Wachsstock, Gebetsbücher, und ein Rosenkranz. Außer ihrem Glauben war den Vertriebenen nicht viel geblieben. Der Glaube an Gott und an eine bessere Zukunft in der neuen Heimat Nürtingen.