Der Triathlon der Frauen hat ein Finale, das buchstäblich um Haaresbreite entschieden wird. Ähnliche Haaresbreiten haben Tradition bei Olympischen Spielen.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

München - Noch zehn Meter vor dem Ziel beim Triathlon der Frauen in London schauten die Dinge relativ eindeutig aus. Nach 1500 Meter Schwimmen, 40 Kilometer Radfahren und 10 Kilometer Laufen war die Schweizerin Nicola Spirig vorne, vielleicht zwanzig Zentimeter vor der Schwedin Lisa Norden. Aber dann verringerte sich die Entfernung noch einmal. Norden kam näher und näher – und als das sehr üppige Band sich vor dem Bauch der beiden endlich wie eine samtene Verpackungssamtschleife wölbte, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen, wer vorne gelegen hatte. Und auch auf den zweiten Blick taten sich die Zielrichter beim Studium des Fotofinish-Fotos schwer. Immer noch jubelten beide Sportlerinnen. Schließlich erklärte die Jury die Schweizerin zur Siegerin, obwohl sie auf Zeitgleichheit der beiden Sportlerinnen erkannte. Das hat es in dieser Art auch noch nicht gegeben bei Olympischen Spielen, nicht im Sommer und nicht im Winter. Aber Vergleichbares.

 

Wer hätte in Sydney nach den 400 Meter Hürden der Männer von den Rängen herunter entscheiden wollen über Sieg und Niederlage? Angelo Taylor aus den USA und Hadi Souan Somayli aus Saudi-Arabien gingen Brust an Brust durchs Ziel. Und doch ließ sich noch ein Unterschied messen. Taylor war drei Hundertstelsekunden schneller gewesen nach der Stadionrunde. Eine winzige Zehenspitze nur, aber immerhin.

"Wo ist Behle?"

Ähnlich und doch anders lagen die Dinge, als 1980 in Lake Placid bei den Winterspielen die Disziplin 15 Kilometer Langlauf der Männer anstand. Das Rennen ist auch deswegen berühmt geworden, weil einem seitdem nicht mehr der klagende Ruf des Fernsehreporters aus der Erinnerung gehen konnte: „Wo ist Behle?“

Jochen Behle, eine deutsche Hoffnung damals mit Anfang Zwanzig, hatte zunächst stets die schnellsten Zwischenzeiten, nur interessierte sich die amerikanische Regie keinen Deut für ihn – und irgendwann musste Moravetz halt nachfragen: „Wo ist Behle?“ Ein Klassiker.

Es hätte zwei Siegerinnen geben müssen

Geschichte gemacht hat das Rennen aufs Ganze gesehen aus einem anderen Grund. Im Ziel nämlich wartete schon relativ früh der Finne Juha Mieto, ein sehr bärtiger, schweigsamer Mann, der immer exzellente Zeiten lief und oft nur Zweiter wurde, denn es gab noch einen anderen, nichts ganz so vollbärtigen und nicht ganz so schweigsamen Mann, Thomas Wassberg, aus Schweden. Der war am Ende meistens vorne – und so auch hier. Aber wie? Wassberg lief die Strecke in 41. 57, 63 Minuten, am Schluss streckte er sein Schienbein vor ins Ziel, das war womöglich die Entscheidung. Die Uhr blieb eine Hundertstelsekunde vor der Zeit von Mieto stehen. Nach 15 Kilometern Skilanglauf. Eine Hundertstel. Es war unfassbar. Wassberg wollte die Goldmedaille teilen, aber das IOC war dagegen. Da fuhr Juha Mieto zurück in den Wald, um allein zu sein und zu weinen, und wer irgendwie ein Herz im Leib hatte, musste ihm das nachfühlen können. Eine Hundertstel!

Es hätte, wie jetzt in London, wo noch nicht einmal die Hundertstel den Unterschied macht, sondern der pure Augenschein, eigentlich zwei Sieger(innen) geben müssen. Aber Juha Mieto, der Finne, ist nicht zerbrochen an dieser Niederlage. Und das IOC wusste sich, was auch nicht häufig vorkommt, zumindest auf die Zukunft gesehen korrigieren. Fortan wurde die Zeitmessung beim Skilanglauf nach der Zehntelsekunde irrelevant fürs Ergebnis. Juha Mieto im Übrigen, der große Schweiger, hat dann doch noch das Reden gelernt: als Abgeordneter der Finnischen Zentrumspartei im Parlament in Helsinki.