Die Phantomtor-Torheit der Fußballrichter fällt zeitlich zusammen mit einer neuen, beängstigenden Studie, schreibt unser Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - Anlässlich eines öffentlichen Auftritts hat Diego Maradona kürzlich seinen ewigen Rivalen Pelé entmannt. Letzterer wurde von der Fifa vor Jahren zum besten Fußballer aller Zeiten gekrönt, worauf sich der beleidigte Argentinier jetzt leicht verspätet noch einmal zu dem Satz hat hinreißen lassen: „Dieser Titel ist einen Scheiß wert.“

 

Die grausame Nachricht fällt zeitlich fast zusammen mit einer neuen, schockierenden Studie, die vieles erklärt: Zu viele Kopfbälle sind ungesund.

Wissenschaftler der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität kommen zu dem alarmierenden Schluss: „Die strukturellen Veränderungen, die bei Fußballern festgestellt wurden, sind denen eines Schädel-Hirn-Traumas ähnlich.“ Die schlimmsten Befürchtungen sind bestätigt. Vor Jahren hatten schon ein Neuropsychologe aus New York und eine Sportwissenschaftlerin aus Florida die mentalen Folgeschäden des Fußballs erforscht und dabei eine grässliche Entdeckung vor allem bei älteren Kickern zwischen 30 und 55 gemacht: Kopfbälle höhlen das Hirn.

Nicht mal der Torschütze Kießling hat ein schlechtes Gewissen

Maradona wurde gestern 53. Das passt und würde erklären, warum er mitunter mit dem Luftgewehr um sich schießt, mit Beleidigungen nicht spart, mit den Füßen tritt und außer Pelé gerne auch mal die Journalisten unter der Gürtellinie blasphemisch bedient ( „Ihr könnt mir alle einen bla. . .!“) – aber fast so schlimm ist die Frage, die man sich als anständiger Fan im Namen des gesunden Menschenverstands neuerdings stellt: Wie alt sind eigentlich die Tatsachenentscheider des DFB-Sportgerichts?

Wir wollen es besser gar nicht wissen. Zu groß ist unsere Angst, dass auch diese Paragrafenreiter, die das Phantomtor von Hoffenheim im Rahmen der Torheit für rechtens erklärt haben, ins obige Altersmuster passen und uns dies zu dem womöglich völlig abwegigen Schluss führen könnte, dass die Spätschäden durch Kopfbälle bis in die höchsten Instanzen zu spüren sind – in dem Fall bis ins DFB-Gericht, das ein Wiederholungsspiel mit der Begründung abgelehnt hat, es liege „kein Regelverstoß vor.“ Nicht einmal gegen Regel 10.

Die Regel 10 des Fußballs lautet: „Ein Tor ist gültig erzielt, wenn der Ball vollständig die Torlinie zwischen den Torpfosten und unter der Querlatte überschritten hat.“ Wenn wir dem DFB-Sportgericht folgen, ist gegen diese Regel nicht verstoßen worden. Alles paletti. Nicht einmal der Torschütze Kießling hat ein schlechtes Gewissen. Liegt es an der Erschütterung seiner Hirnrinde, die sein Kopfball ausgelöst hat? Unbestätigten Meldungen zufolge ergaben seismografische Messungen, als er den Ball mit der Stirn nahm, eine Zehn auf der Richterskala.

Horst Hrubesch: „Manni Banane, ich Kopf – Tor.“

Das ist, sofern es sich um keine Latrinenparole handelt, ein Wink mit dem Zaunpfahl: Wer zum Kopfball hochsteigt, sollte sicherheitshalber zu den Risiken und Nebenwirkungen vorher den Arzt oder Apotheker befragen – oder am besten gleich den Psychiater. Jedenfalls hat „Bild“ einmal glaubhaft über gewaltige Kräfte berichtet, die da schlimmstenfalls mit bis zu 100 Kilometern pro Stunde aufs Gehirn wirken, und balkenhoch gefragt: „Machen Kopfbälle dumm?“

Die Antwort ist ein knallhartes Jein. Die einen jubeln nach einem Kopfball wie gaga, obwohl er das Tor verfehlt – doch es gibt auch genug Fußballer, die solche Erschütterungen wegstecken wie ein Nasenbohren und bei denen das Hirn selbst nach einem Kopfballtorpedo schadlos und gemütlich durchs Schädelwasser plätschert wie eine Nuss-schale in der Karibik. Horst Hrubesch beispielsweise war in den 1980ern weltberühmt als „Kopfballungeheuer“, für einen Sieg des HSV oder der Nationalelf hätte er nicht einmal einen Flugkopfball gegen die Bordsteinkante gescheut, jedenfalls wartete er im Strafraum gierig auf die krummen Bananenflanken von Manfred Kaltz und erläuterte den Vorgang im TV-Interview hinterher gesund und glücklich so: „Manni Banane, ich Kopf – Tor.“

Doch genauso gut, argwöhnt die Wissenschaft, können Kopfbälle zu bleibenden Schäden führen, mindestens aber zu vorübergehenden Blackouts. Spontan fällt da vielen Lukas Podolski ein mit der philosophischen Erkenntnis: „Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel.“ Hat er zwar nie gesagt, der Satz stammt aus einer Podolski-Parodie, aber Linksaußen trauen wir eben alles zu, die sind halt so – wirklich beängstigend sind aber die Langzeitschäden, die wir Laien uns der Einfachheit halber ungefähr so vorstellen sollten: Den Kopfballopfern gelingt es nicht mehr, die Klappe zu halten, zügellos ist ihr Redeschwall, und wenn der Schließmuskel des Mundes versagt, ist es wie beim Schließmuskel des Afters: Es kommt nichts Gutes heraus.

Tiki-Taka heißt das gesunde, kopfballfreie Rezept des Fußballs

Natürlich sollten wir uns hüten, Kopfbälle pauschal als Verursacher jedes unkontrollierten Blablas zu verdächtigen, aber andererseits spricht allerhand dafür. So kommen immer mehr Trainer ab von den Mittelstürmern des alten Schlags, die sich als Brechstangen mit dem Kopf voraus in die Flugbahn des Balles warfen und die Birne hinhielten, bis sie vibrierte. Pep Guardiola hat in Barcelona und jetzt beim FC Bayern das Flanken so gut wie verboten, Jogi Löw und Vicente del Bosque sehen die Dinge ähnlich, der Trend geht zum falschen Neuner, vorne wuseln nur noch Trickser herum. Tiki-Taka heißt das neue, gesunde, kopfballfreie Rezept des Fußballs: flach spielen, hoch gewinnen – so droht kein irreparabler Defekt des Denkvermögens.

Vor dem Hintergrund der neuen Studie stellt sich so mancher Fan jedenfalls die grausame Frage: Haben auch diese regelgerechten DFB-Richter einen Sprung in der Schüssel, also wissenschaftlich gesehen einen Kopfball zu viel? Zu ihrer Entlastung werden Letztere jetzt womöglich vorbringen, dass sie nie Fußball gespielt, also auch nie geköpft haben – doch die schreckhaften Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität würden ihnen vermutlich raten: Gehen Sie sicherheitshalber trotzdem zum Doktor.