Vergangene Woche Michael Phelps, diese Woche Usain Bolt – will noch irgendwer wirklich wissen, ob er gedopt ist? Unser Kolumnist Oskar Beck hat dazu eine klare Meinung.

Rio de Janeiro - Usain Bolt hat vor ein paar Tagen ohne falsche Bescheidenheit verraten: „Ich will eine Legende werden wie Muhammad Ali, die Menschen sollen mit Ehrfurcht von mir reden.“

 

Sie tun es. Immer mehr kommen jedenfalls ab von der pingeligen Frage aller Fragen, die jahrelang jedes Finale im Sprint überschattet hat: Ist Usain Bolt gedopt?

Es juckt keinen mehr. Die einzige Frage, die weiten Teilen der Menschheit vor einem Endlauf wie dem über die 200 Meter in der vergangenen Nacht noch eine Gänsehaut über den Rücken jagt, ist die: Macht der Jamaikaner seine Androhung eines neuen Weltrekords wahr – und schafft er ihn womöglich mit verbundenen Augen, in Fußfesseln und rückwärts laufend?

Lamine Diack hätte früher bei seinem Augenlicht geschworen, dass so was geht. Der Ex-Weltpräsident der Leichtathleten tat jahrelang alles dafür, dass die Welt solche Sprintfinals ohne grüblerische Hintergedanken seelenruhig genießen konnte, und gab öffentlich bekannt: „Usain Bolt ist sauber. Und die meisten Sprinter, die die hundert Meter unter zehn Sekunden laufen, sind es ebenfalls.“ Ein solches Machtwort hat man nicht mehr gehört, seit in Teheran dem Ex-Präsidenten Ahmadinedschad der Satz entfuhr: „Bei uns gibt es keine Homosexuellen.“

Man hat den Dunkelmann Diack dann kurz danach aus dem Amt befördert. Seine Feinde unterstellen ihm so viel Dreck am Stecken, dass er jetzt mitsamt seiner zwei Söhne, die angeblich ein hohes Schweige- und Lösegeld von einer gedopten Leichtathletin zu erpressen versuchten, im Schwitzkasten der Strafverfolgungsbehörden klemmt. Aber viele Sportfans haben Diacks frohe Botschaft zu Bolt noch rechtzeitig verinnerlicht. Sie fragen sich nicht mehr, ob der Blitz aus Jamaika gedopt ist, sondern: Wollen wir es wirklich wissen?

Wenn jeder Scheinheilige wie eine 60-Watt-Birne glühen würde, würde die Welt erblinden

Wollen wir lieber a) gedopte Sportler, die uns Medaillen gewinnen, oder b) ehrliche, die sauber verlieren? Umfragen dieser Art nennt man inzwischen den „Heucheltest“, denn acht von zehn Fans antworten in der Regel mit b) und untermauern damit den grässlichen Zynikersatz: Wenn jeder Scheinheilige wie eine 60-Watt-Birne glühen würde, würde die Welt erblinden.

Immer vollgepacktere Stadien mit allzeit faszinierten Fans wollen über Bolt jedenfalls nichts Böses wissen. Auch die Dopingkontrolleure in Jamaika wollen es nicht wissen, und warum sollen wir Medien es wissen wollen, was wären wir denn ohne diesen schrillen Vogel und Quotenbringer?

Für das Fernsehen ist er der freilaufende Gockel, der Eier legt. Allein 970 000 Deutsche haben in der Nacht von Sonntag auf Montag den Wecker gestellt (fast so viele wie bei Alis Jahrhundertkämpfen), um in der ARD seinen 100-Meter-Sieg zu erleben, und in einer Bar am J.F.K.-Flughafen in New York kam es zum Chaos – das Geschrei bei Bolts Zieleinlauf wurde als Panik interpretiert, löste einen Fehlalarm aus, und zwei Terminals mussten geräumt werden. Die Bolt-Hysterie trägt an besonders verrückten Tagen Züge der Beklopptheit wie bei den sensationsgierigen Horden, die als Gaffer bei Verkehrsunfällen munter Fotos knipsen und sich für das Unglück der Opfer ungefähr so wenig interessieren wie andere für die Frage, ob Bolt sich dopt.

Wer, wenn nicht die Fans, will es also wirklich wissen? Die Funktionäre etwa? Sie werden reich durch ihren Sport, Dopingfälle stören nur. Der Weltschwimmverband ließ zuletzt in Rio jeden siegen, dem das Teufelszeug nicht gerade aus den Ohren herauslief, und ist Michael Phelps letzte Woche bei seinem sagenhaften Comeback von irgendwem noch ernsthaft auf sein Erfolgsrezept hin hinterfragt worden?

Bolt ist derselbe Heilsbringer, dieselbe Lichtgestalt und als Sensation im Zirkus unbezahlbar. Die Fans, das Fernsehen und die Funktionäre brauchen ihn, und an der Stelle werden die Zweifler einsam. Falls Bolt etwas nehmen sollte, hat der Antidopingprofessor Fritz Sörgel gesagt, würde sich das erst aus den Langzeitproben ergeben – also in circa acht bis zehn Jahren.

Bis dahin haben wir also erst einmal Ruhe. Bolt darf weiter lachend schwören, dass die jamaikanische Süßkartoffel und die Chickenwings auf der Couch ihn so schnell gemacht haben – und seine Fans dürfen weiter glauben, dass Bolt an guten Tagen zu Fuß über den See Genezareth sprintet und aus Wasser unterwegs Wein macht.