Otfried Preußler hat seinen kleinen und großen Lesern unzählige frohgemute Begleiter geschenkt: Räuber Hotzenplotz, die Kleine Hexe, Kater Mikesch und das Kleine Gespenst. Am Montag ist der Kinderbuchautor mit 89 Jahren gestorben.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Am Ende der beiden tiefgründigsten Romane, die der Böhme Otfried Preußler vornehmlich für Heranwachsende geschrieben hat, findet der jeweilige junge Mann im Mittelpunkt die Frau fürs Leben. Beim ersten Mal, in den „Abenteuern des starken Wanja“ (1968), geschieht das, indem der Mann die Macht übernimmt: Wanja wird, nach etlichen Bewährungsproben und einer Reise durch halb Russland, zum Zaren gekrönt, doch ist er als ehemals kleiner Bauernsohn von vorneherein ein zweifelnder Zar. Es komme aber, bedeuten ihm sein greiser Vorgänger und dessen Tochter Wassilissa, gar nicht auf die Herkunft an: „Es ist das Herz, das den Zaren ausmacht.“

 

Beim zweiten Mal, in Otfried Preußlers „Krabat“ (1971), einer Geschichte, die in der Nähe von Hoyerswerda zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges spielt, gewinnt der Mann die Frau, indem er bewusst auf die Macht verzichtet. Krabat, gleich seinen Mitgesellen von einem diabolischen Müllermeister ausgebildet in der Kunst der schwarzen Magie, verliert in der Silvesternacht alle übernatürlichen Fähigkeiten, als ihn sein Mädchen, das er liebt, frei bittet. Gemeinsam bestehen sie eine letzte schwere Probe. Das Mädchen erkennt Krabat mit verbundenen Augen: „Wie hast du mich herausgefunden?“, fragt Krabat, als der ganze Spuk vorbei ist, und die Kantorka antwortet: „Ich habe gespürt, dass du Angst hattest, Angst um mich: daran habe ich dich erkannt.“

Kinder waren immer seine besten Kritiker

Im jeweiligen Kern ist dies Otfried Preußlers Lehre und Vermächtnis bereits zu Lebzeiten gewesen: dass der Einzelne nicht größer wird, indem er sich verschließt, sondern indem er sich öffnet. Und teilen, nicht herrschen; helfen, nicht höhnen, waren Preußlers Devisen seit jeher als Schriftsteller. Ist es ein Wunder, dass dieser weise, gescheite, menschliche, aber niemals altkluge Schriftsteller hierzulande und durch zahlreiche Übersetzungen in aller Welt mehr als fünfzig Millionen Leser gefunden hat?

Otfried Preußler aus Reichenberg verschlug es nach Hitlers Russlandoffensive und fünf bitteren Jahren Kriegsgefangenschaft in die Nähe von Rosenheim, wo er Lehrer wurde, Ehemann und Vater dreier Töchter. Daheim und in der Schule wob er, zuerst mündlich, jene Geschichten weiter, die ihm seine Oma Dora früher erzählt hatte (fort lebt sie in der überaus herzlichen Großmutter aus dem „Räuber Hotzenplotz“). Erst nachdem die Tauglichkeit der Erzähltexte vom Publikum überprüft worden war – nicht zu Unrecht hielt Preußler Kinder immer für die besten Kritiker (und wollte ohne ausufernde Diskussionen über die angeblich gefährdete Freiheit der Kunst unzeitgemäße Wörter wie „Neger“ und „Zigeuner“ etc pp. zuletzt auch ausgetauscht wissen.) – fanden sie allmählich ihren Weg aufs Papier. Lehrer und später Rektor im oberbayerischen Stephanskirchen blieb Preußler jedoch, bis er fünfzig wurde.

Harry Potter kam nicht aus dem Nichts

Erst dann traute er seinem Schreiben über den Weg und wurde Freiberufler. Längst jedoch hatten Figuren der Kinderweltliteratur wie die kleine Hexe (1957) oder der kleine Wassermann (1956) und einige seiner Brüder Preußlers Werkstatt verlassen und sich selbstständig gemacht. Das fiel ihnen leicht, hatte ihr Schöpfer sie doch mit einem einmaligen Ton ausgestattet, der war so einfach wie bezwingend, so unverkünstelt wie artistisch. Ein Beispiel: als der Weiher im „Kleinen Wassermann“ zum ersten Mal „wie mit Glas überzogen“ ist, und es Winter wird, denkt die Hauptfigur nicht von ungefähr an die Rutschpartie auf dem Mühlrad oder das Versteckspielen im Schlingpflanzendickicht, sondern auch an die „silberne Mondnacht am Ufer“: Es umgibt Otfried Preußlers Prosa beständig ein Hauch von Eichendorff – seine ausgemalten Stimmungen, seine diskreten Vergleiche und seine unvergleichlichen Naturbilder. So vermochte einem Preußler halbe Welten aufzuschließen: die Türen zum eigenen Ich, aber auch die Pforten der Wahrnehmung überhaupt.

Wer Preußler gelesen hat, dürfte jedenfalls für die literarischen Wege der europäischen Romantik (inklusive ihrer Schauer- und Nachtseitenpfade sowie ihrer heutigen Ausprägung im Fantasy-Genre) immer noch bestens vorbereitet sein. Und dass Harry Potter nicht ganz aus dem Nichts gekommen ist, erkennt namentlich der „Krabat“-Leser sogleich. Für Preußler selber war der Roman um die mysteriöse sorbische Mühle ein Schlüsselbuch, schließlich verarbeitete er hier seine ganze Vorkriegs- und Kriegserfahrungen und vor allem die Themen Führung, Verführung und Widerstand, den es sich lohnt zu leisten, wo das Unrecht erdrückend wird.

Adieu, Lebensfreund!

Otfried Preußler war ein begeisterter Geschichtenerzähler. Auf seine unnachahmliche Art und Weise konserviert er in seinen Büchern einen Klang, der durch die Teilung Mitteleuropas im Deutschen förmlich entrückt war. Erhalten bleiben jenseits des Komödiantischen und der Sagengestalten östlicher Provenienz in den ernsten Büchern Erinnerungen an die tschechische und altösterreichische Literatur: ein bisschen Schwejk (also Jaroslav Hasek), ein wenig Stifter, in den allerdunkelsten Momenten tatsächlich Spuren von Kafka.

Darüber hinaus hat Preußler seinen Lesern einfach unzählige frohgemute Daseinsbegleiter geschenkt: das Kleine Gespenst, Kater Schnurr, den Pumphutt, Hörbe und seinen Freund Zwottel, um nur einige zu nennen. Mehr als 30 Bücher sind es geworden, und wer sie als Erwachsener seinen Kindern auszugsweise vorliest, freut sich auch daran, dass man die meisten davon mühelos für sich wieder- und ganz neu gar zu entdecken vermag. In Otfried Preußler, der am Montag im Alter von 89 Jahren in Prien am Chiemsee gestorben ist, geht somit auch: ein Lebensfreund. Man verbeugt sich. Und dankt!