Manfred Künzel aus Waiblingen ist Anwalt aus Überzeugung – und hat dennoch ein kritisches Verhältnis zur Strafjustiz. Am Montag wird er 80.  

Manteldesk: Thomas Schwarz (hsw)

Stuttgart - Mir ist mal ein sogenannter Kinderschänder im Gefängnis um den Hals gefallen. Wie der mir sein Herz ausgeschüttet hat - das wäre vor Gericht gar nicht möglich." Die Frage, ob er einen Unmenschen verteidigen könnte, stellt sich Manfred Künzel nicht. Ihn treiben andere Überlegungen um: "Was ist Schuld? Was ist freier Wille? Das ist ein theologisches Problem. Wir glauben, dass wir das vor Gericht lösen können, doch das ist ein großer Irrtum", sagt Künzel.

 

Seit einem halben Jahrhundert ist der Waiblinger, der heute 80 Jahre alt wird, Rechtsanwalt. Als er sich damals zum Jurastudium entschloss, war für ihn schon eines klar. "Wenn Jura, dann Anwalt, nichts anderes." Er hat sich als Strafverteidiger in der Stuttgarter Juristenszene einen Namen gemacht. Als einer, der konsequent und deshalb für viele unbequem ist. Vor allem für Staatsanwälte und Richter, denen er deutlich zu verstehen geben kann, was er von ihrem Verhandlungsstil und von ihren Urteilen hält. "Wenn man die Prozessakten bekommt und die Bemerkungen der Richter am Rand liest, ist meistens schon klar, wohin das gehen wird."

Dennoch ist Manfred Künzel überzeugt, dass ein Plädoyer etwas bewirken kann. Plädieren ist seine Stärke. Wer erlebt hat, welche Argumente er für einen Mandanten in die Waagschale wirft und vor allem wie, der merkt, dass da einer nicht nur mit geschliffener Rhetorik am Werk ist, sondern auch mit der echten Überzeugung für den Beruf des Verteidigers. Ob es nun um einen Mord oder um einen Verkehrsunfall geht. Das macht es denen, die zu urteilen haben, nicht immer leicht. "Eine Richterin hat einmal zu mir gesagt: ,Ich verurteile Ihren Mandanten trotz Ihres Plädoyers."'

"Wie konnten wir diese Menschen verurteilen?"

Seine konsequente Haltung machte ihn schon früh weit über die Region Stuttgart hinaus bekannt. Im ersten RAF-Prozess 1975 in Stammheim gegen die Terroristen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wurde er zum Pflichtverteidiger Ensslins bestellt. Diese bezeichnete ihn als Schwein. "Die Angeklagten haben uns abgelehnt, weil sie uns als willfährige Instrumente eines faschistischen Systems gesehen haben." Nachdem durch Künzels Befangenheitsantrag der Vorsitzende Richter Theodor Prinzing von der Verhandlung ausgeschlossen worden war, wollte Ensslin dann erstmals Kontakt mit ihrem Verteidiger aufnehmen.

"Ich war Referendar bei Prinzing gewesen und habe ihn geschätzt", sagt Künzel, der bis vor wenigen Jahren über seine Erlebnisse während des Prozesses konsequent geschwiegen hatte. Leicht sei es ihm nicht gefallen, den Antrag zu stellen, aber es sei seine Pflicht als Verteidiger gewesen offenzulegen, was vorgefallen war. Der Vorsitzende Richter hatte sich zuerst mit einem für die Revision zuständigen Bundesrichter besprochen und dann versucht, Einfluss auf den jungen Anwalt zu nehmen. Als Künzel dies in seinem Antrag publik machte, kam das Aus für Prinzing.

"Die Studentenbewegung in den 60erJahren war notwendig", sagt Künzel. Während seines Studiums in Tübingen und München hatte er ehemalige Nazis als Dozenten erlebt, als Referendar regelmäßig mit Fällen zu tun gehabt, die heute, nicht einmal 50 Jahre später, undenkbar wären. "Am Amtsgericht in Schorndorf hat ein Vermieter damals mit einer Kündigungsklage recht bekommen, weil seine Mieter nicht verheiratet waren. Wie man so verklemmt sein konnte!" Es gab damals noch Prozesse wegen Ehebruchs. Oder um die Rückerstattung von Kranzgeld, weil eine Verlobung geplatzt war. "Und mindestens einmal im Monat wurde jemand wegen Homosexualität angeklagt", sagt Künzel. Der berüchtigte Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs, der sexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte, wurde erst 1988 ersatzlos gestrichen. "Wie konnten wir diese Menschen verurteilen, wo doch kurz zuvor Hunderttausende wegen ihrer Neigung vergast worden waren."


Als Manfred Künzel am 16. Januar 1932 in Waiblingen zur Welt kam, war die Stadt eine andere als heute. "Damals hat es eine Viehzählung gegeben. Die Ergebnisse sind ganz interessant", sagt er und präsentiert diese auf einem Notizzettel: 92 Pferde, 356 Rinder, 146 Ziegen, 297 Schweine und 6633 Hühner. "Und in jedem Haus gab es ein Lacheloch, das regelmäßig leer gepumpt wurde." Das Staufer-Gymnasium, das Künzel besuchte, hieß seinerzeit noch Horst-Wessel-Oberschule für Jungen. Der Umgang mit den Schülern war beinhart. "Einen Lehrer nannten wir Bambusch, weil er immer einen Rohrstock bei sich hatte." Den bekamen die Buben häufig zu spüren. Ein Schüler wurde so verprügelt, dass er danach einen blauen Oberarm hatte. "Als der Lehrer sich bei seinen Eltern dafür entschuldigte, bekam der Bub vom Vater nochmals Schläge - weil der Lehrer wegen ihm ins Haus hatte kommen müssen", erzählt Künzel. Die Kinder lernten mit Luftgewehren schießen, die Habachtstellung war ihnen bereits vertraut. "Wir wurden preußisch gedrillt und zum Sterben erzogen. Keiner kann sagen, er habe nichts gewusst." Heute sei das zu seiner Freude ganz anders: "Zehnjährige sind viel lebhafter als wir damals."

Der erste Studienwunsch des Abiturienten Manfred Künzel ging in Richtung Mathematik und Physik. "Zwei Mitschüler kauften mir allerdings den Schneid ab. Dass drei aus einem Jahrgang in den Fächern was werden könnten, kam mir unwahrscheinlich vor." Für Jura entschied er sich, obwohl ihm klar war, dass in Deutschland eine große Ahnungslosigkeit über das Rechtssystem besteht. "In jedem bürgerlichen Haushalt findet man ein Standardwerk zur Geschichte, zur Musikgeschichte, zur Kunstgeschichte, aber keines zur Rechtsgeschichte." Von der Justiz wüssten viele nichts. Und sie wollten auch nichts mit ihr zu tun haben, schon gar nicht, wenn es darum gehe, vor Gericht auszusagen.

"Vor ein paar Jahrhunderten haben wir urplötzlich das Römische Recht übernommen, seinen Ansatz aber bis heute nicht so richtig verstanden. Friedrich der Große hat Richter sogar noch mit dem Stock verprügelt, wenn ihm deren Urteile nicht gepasst haben", sagt Manfred Künzel. Dieses Rechtsverständnis stecke noch tief in uns. Die abstrakten Funktionen eines modernen Strafrechts, das Regelverstöße ahndet, um die Ordnung zu schützen, seien in der Bevölkerung so gut wie nicht präsent. "Die Leute wollen Vergeltung."

Privates Engagement

Manfred Künzel denkt anders. Nach dem Studium trat er in eine Waiblinger Kanzlei ein, die heute Künzel und Partner heißt und mehr als ein Dutzend Anwälte beschäftigt. Der Sohn des Gründers, drei Jahre jünger als Künzel, hatte auf Wunsch des Vaters zwar Jura studiert, aber von vorneherein erklärt, er wolle in dem Beruf nicht arbeiten. "Der wollte Allotria und hat dann beim Rundfunk Karriere gemacht." Sein Name: Alfred Biolek. "Wir haben immer noch Kontakt."

Über die Jahrzehnte hat Manfred Künzel einige illustre Mandanten vertreten, darunter den "Remstalrebellen" Helmut Palmer, den er mehrmals verteidigte, auch zusammen mit seinem Kollegen Axel Azzola. "In einem Prozess hatte ich zwei Polizisten, die Palmer ständig anzeigten, als Gespann bezeichnet. Der Richter wies mich zurecht, das Wort sei bei Ochsen angebracht, nicht bei Polizisten." Später, als Azzola Künzel ins Wort fiel, während dieser einen Antrag formulierte, wollte der Richter wissen, wer den nun von beiden spreche. Darauf Azzola: "Beide, wir sind ein Gespann."

Wer Manfred Künzel kennt und ihm in der Waiblinger Altstadt begegnet, den erwartet zumindest ein kurzer Plausch. Es kann aber auch vorkommen, dass man kurzerhand in die Kanzlei mitgenommen wird, um die Kunstwerke von Gerhard Hezel anzusehen. Im Besprechungsraum hängt ein großes Triptychon des Künstlers, mit dem Künzel seit der Kindheit befreundet ist. Das Motiv wirkt auf den ersten Blick wie eine Kreuzigungsgruppe. Tatsächlich stellt es drei Vogelscheuchen dar. An einer hängt ein alter Topf, ein Vogel hat genau darin sein Nest gebaut. "Das habe ich mal einem Richter gezeigt und ihm gesagt: ,Da können Sie mal sehen, wie viel Abschreckung bewirkt."'

Manfred Künzel arbeitet bis heute als Rechtsanwalt. Privat engagiert er sich vielfältig für seine Heimatstadt, unter anderem in dem von ihm mit initiierten Verein Fremde unter uns, der die Integration von Menschen aus 120 Nationen fördert, die in Waiblingen eine neue Heimat gefunden haben. Vor Kurzem hat er zusammen mit einigen Mitstreitern den Verein Freunde helfen Freunden gegründet, um Opfern von Naturkatastrophen beizustehen. Der Auslöser dafür waren die Erdbeben in der Türkei, die Tausende im Winter obdachlos gemacht hatten. Eine Waiblingerin, die aus der Gegend stammt, wandte sich damals hilfesuchend an Manfred Künzel. Der verfasste praktisch über Nacht die Satzung für den Verein. Als in der Zeitung darüber berichtet wurde, durfte er zwar zitiert werden, aber mit einer für ihn typischen Einschränkung: "Bitte nicht als Rechtsanwalt Künzel. Wenn ich Bäcker wäre, würden Sie das ja auch nicht schreiben."