300 Jahre jüdisches Leben in Freudental – ein ambivalentes „Jubiläum“, denn das letzte jüdische Leben dort wurde mehr als 80 Jahren ausgelöscht. Was ist geblieben? Ein ambitioniertes Projekt spürt dieser Frage jetzt nach.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Bücher aus dem „Giftschrank“ der Zeit des Nationalsozialismus mit Titeln wie „Um Blut und Boden“ oder „Ubootsgeist“stehen hier. Daneben in Kisten ein Nachlass mit Dokumenten über den in die Schweiz entkommenen jüdischen Freudentaler Geschäftsmann Julius Marx. Dazu: Staffeleien, Farbtuben, Kalligrafie-Federn, Papiere, weitere Materialien und 5784 umherkullernde Tischtennisbälle. Sie stehen für das Jahr 5784, das für Jüdinnen und Juden Mitte September 2023 begonnen hat.

 

Es ist eine ausgefallene Woche in der ehemaligen Synagoge in Freudental: Aus Anlass der Tatsache, dass sich vor 300 Jahren die ersten Juden in dem Ort ansiedelten, spüren dort elf Künstlerinnen und Künstler der Frage nach, was von 300 Jahren jüdischem Leben in Freudental geblieben ist.

Es gibt den jüdischen Friedhof, den Synagogenbau, der heute ein Begegnungs-, Lern- und Kulturzentrum ist, und äußerliche Erinnerungen wie diejenige an den einstigen Freudentaler Juden Irwin Stein, nach dem ein Sträßlein benannt ist. Aber ist da noch etwas darüber hinaus? Ja, finden die Kreativen, die sich bis zum Wochenende in den Gästezimmern in der einstigen Synagoge einquartiert haben und über verschiedene Räume verteilt arbeiten. Ja, es gibt noch Funken, es hallt noch etwas aus fernen Echokammern wider – auch wenn es sich nicht leicht fassen lässt und eher atmosphärischer Art ist. „Es ist eine Schwingung, die erlebbar ist, wenn man sich hier aufhält“, sagt die 26-jährige Performance- und Installationskünstlerin Svea Menne aus Essen. Es sei ein Geschenk, hier verweilen und am Lebendighalten teilhaben zu dürfen.

„Wir wollten einfach mal das Fass aufmachen“

Für das Projekt „300 Jahre in 300 Minuten“ hat das Pädagogisch-Kulturelle Centrum (PKC) Frauen und Männer aus Sparten wie Fotografie, Performance, Theater, Lyrik oder Musik in Freudental versammelt – eine Art Think Tank der Künste. Junge und ältere Semester sind dabei, viele aus der Region wie die Malerin Vera Rentschler aus Löchgau oder der Texter und Grafiker Mirko Trodler aus Ludwigsburg, der beim 50-Jahr-Fest des Landkreises Ludwigsburg zufällig auf das Projekt stieß und sich jetzt als Kalligraf daran beteiligt, weil ihn die enigmatischen hebräischen Schriftzeichen anziehen.

Es ist das erste Kunstprojekt dieser Art, ein Versuchsballon im Gedenkjahr. Man konnte sich dafür bewerben, es sollte ein möglichst großes Spektrum künstlerischer Ausdrucksweisen entstehen. „Wir wollten einfach mal das Fass aufmachen“, sagt Michael Volz, der im PKC für Pädagogik und Kultur verantwortlich ist. Bei einer Vernissage am Sonntag wollen die Künstlerinnen und Künstler dann ihre Sichtweise auf Freudentals jüdische Geschichte mit ihren Blüten, Brüchen und Leerstellen zeigen.

Anregungen dafür geben zum Beispiel Text- und Bildquellen aus dem PKC-Archiv, Entdeckungsgänge in und um Freudental oder Workshops mit Tobias Christ. Der zum Judentum übergetretene Künstler bringt die Gruppe mit jüdischer Mystik und hebräischen Schriftzeichen in Berührung.

In einer knappen Woche ein Gespür für das Thema zu bekommen, sei sehr ambitioniert, findet Svea Menne: „Niemand von uns hat jüdische Wurzeln, und es ist ein riesengroßes Feld.“ Für sich persönlich ist sie der Überzeugung: „Das geht nur, indem man sich über Empathie berühren lässt.“ Das gefällt Michael Volz, der Empathie für einen Schlüssel hält, der künftigen Generationen die Tür zum Verständnis jüdischer Geschichte in Deutschland öffnen kann, da nun die letzten Zeitzeugen abtreten. Es sei wichtig, dass junge Menschen weiterhin von dieser Geschichte wüssten und „Zweifel säen“ könnten – „dass sie, wenn sie AfD-Sprech hören, sagen können: Moment mal, das hab’ ich in Freudental aber anders gehört“.

Wie aus Erinnerung Klang werden kann

Der Kölner Instrumentalist Lukas Schäfer, der sich unter anderem mit Akustik in Sakralräumen beschäftigt, war überrascht, „an diesem Ort, auf dem ein so schweres historisches Gewicht lastet, auf so eine große, nicht zielgerichtete Offenheit zu treffen“, wie er sagt. Er beschäftigt sich in Freudental damit, wie die Erinnerung verklanglicht werden kann, etwa mit Kontaktlautsprechern, die an Glasscheiben geheftet werden können, damit diese als Membran dienen, durch die Klang in den Raum kommt.

Der Lyriker und Poetry-Slammer Ruben Franz hat sich gleich in Nachtschichten gestürzt. Auch wenn jeder sein eigenes Ding mache, genieße er die gemeinsame kreative Energie und die völlig unterschiedlichen Blickwinkel auf die drei Jahrhunderte jüdischen Lebens, erzählt der junge Mann. „Ich fühle mich durch den Austausch hier total gepusht“, sagt er und vergleicht seinen Part im Künstlerkollektiv mit einer Fledermaus, die ihre Ultraschallortung in den Raum hinauswirft „und schaut, was zurückkommt“. Was er daraus in Textform gießt und auf welche Weise? Das ist, wie alle Arbeiten der Beteiligten, noch im Entstehen. Die Antworten gibt es am Sonntag bei der Präsentation.

Erinnern an jüdisches Leben in Freudental

Die Vernissage
Wie sie 300 Jahre in 300 Minuten darstellen, zeigen die Künstlerinnen und Künstler am Sonntag, 24. September, im Zeitraum zwischen 10 und 15 Uhr in der ehemaligen Synagoge. Um 11 Uhr begrüßt Alfred Dautel, Vorsitzender des Vereind Pädagogisch-Kulturelles Centrum Ehemalige Synagoge Freudental (PKC).

Die Synagoge
Erbaut im Jahr 1770, diente die Freudentaler Synagoge bis 1938 als Gebets- und Versammlungsort für die jüdische Gemeinde in der Region. Am 10. November 1938 wurde sie von Nationalsozialisten aus Ludwigsburg und Freudental verwüstet und geschändet, danach als Sporthalle und als Lager einer Schlosserei genutzt. Seit 1985 ist sie Gedenkstätte und Jugendbildungsakademie.