Die Eltern von Tobias sagen vor Gericht aus. Es ist das letzte, was sie für ihren Sohn noch tun können. Aber viele Fragen bleiben offen.

Stuttgart - Sein Kopf nickt, lautlos formen die Lippen von Tobias Vater Antworten auf die Fragen der Richterin. Auf dem Zeugenstuhl hat zwar die Mutter des getöteten Jungen aus Weil im Schönbuch Platz genommen, ihr Mann sitzt noch in zweiter Reihe des Sitzungssaals im Stuttgarter Landgericht. Aber Distanz schafft das nicht. Es ist, als wäre auch der Vater mittendrin in der Befragung, er erlebt alles wieder: den Tag vor zwölf Jahren, als er seinen elfjährigen Sohn zum letzten Mal sah. Den Abend, an dem er ihn zusammen mit seiner Frau suchte und die Nacht, als sie den Jungen – dann schon in Begleitung der Polizei – seltsam verrenkt hinter der Hütte am Fischweiher liegen sahen. „Das spielt sich alles wie ein Film noch mal ab“, sagt der Vater später, als die Richterin auch ihn als Zeugen nach vorne holt.

 

Manche Spur stellte sich als kolossaler Irrtum heraus

Es ist Tag sieben in dem Mordprozess, auf den viele, allen voran die Eltern, immer gehofft hatten. Jahrelang fahndeten die Ermittler nach der Person, die Tobias mit 38 Messerstichen getötet und dann verstümmelt hat. Manche Spur, wie die eines zu Unrecht verdächtigten Sonderschülers, stellte sich als kolossaler Irrtum heraus. Die Ermittler gingen Tausenden von Hinweisen nach, rund um den Weiher fanden sie blutverschmierte Messer in der Erde stecken, auch eine Schaufensterpuppe, die für sexuelle Handlungen benutzt worden war. Nichts hatte mit dem Tod des Jungen zu tun. Der Fall galt als ungeklärt, bis vergangenen August überraschend der jetzt Angeklagte festgenommen wurde. „Eines Tages kriegen wir den. Das habe ich immer zu meiner Frau gesagt“, sagt Tobias Vater. „Du hast nicht gewusst, warum, wieso, was passiert ist. Da läuft einer rum und macht so was. Aber ich habe die Hoffnung auf Aufklärung nie aufgegeben“, sagt die Mutter.

Das Geschehene schweißt zusammen

Für die beiden und auch ihren ältesten Sohn, heute 25, ist der Prozess das vielleicht Letzte, was sie für Tobias tun können. Das Geschehene hat sie zusammengeschweißt. Jetzt geben sie ihm, der schon lange tot ist, aber längst nicht vergessen, ein Gesicht. „Tobias war ein Wunschkind. Sehr lebhaft, es war immer was los, wenn er da war“, erzählt seine Mutter. Als sehr talentierten Radfahrer schildert ihn der Vater, der seine Söhne selbst trainiert hat. Beide Eltern, er arbeitet in der Autobranche, sie verkauft in einer Bäckerei, malen das Bild einer harmonischen Familie, die im Kreis Böblingen im Doppelhaus lebt. Bis der 30. Oktober 2000, der erste Tag der Herbstferien, die Idylle zerfetzt.

An diesem Tag wird der Fünftklässler ermordet. Der Vater findet den Leichnam und will zunächst an einen Unfall glauben. „Aber wie er dalag, die Augen aufgerissen, die Hände verkrampft, da muss ein Kampf stattgefunden haben“, sagt der Vater. Sein Sohn habe sich nicht wehrlos ergeben: „Dazu kenne ich ihn zu gut.“ Er korrigiert sich: „Dazu habe ich ihn zu gut gekannt.“

Mord gestanden

Der Angeklagte, ein 48 Jahre alter Bäcker, der sich selbst als pädophil bezeichnet, hat den Mord an dem Jungen längst in allen schmerzvollen Details gestanden. Aber auch ohne dessen Aussage, die Einblicke gibt in tief gestörte sexuelle Fantasien, lässt der Fall Tobias wohl keinen kalt, der damit in Berührung gerät. Auch die Richterin nicht: „Ich möchte Ihnen das aufrichtige Mitgefühl des Gerichts aussprechen“, sagt Regina Rieker-Müller, noch bevor sie das Ehepaar nacheinander auf den Zeugenstuhl bittet. Dabei ist sie als Vorsitzende einer Schwurgerichtskammer einiges gewohnt.

Auch ein Polizist, der nicht mehr bei der Mordkommission arbeitet, hält dennoch Kontakt zur Familie; seine Kollegin, die zugegen war, als der Vater den Jungen fand, weint im Zeugenstand. Vielleicht ist der Fall auch deswegen so ungeheuerlich, weil viele Rätsel unlösbar schienen und scheinen. Wie das Rätsel um die blaue Faser.

Offene Fragen bleiben

400 Spuren davon wurden auf der Regenjacke des toten Jungen gefunden, das sind ungewöhnlich viele. Sie stammen von einer mittelblauen Fleecejacke, die bis heute nicht zugeordnet werden kann. In der Wohnung von Tobias Eltern, dessen Oma, im Umfeld des zunächst verdächtigten Sonderschülers – nirgendwo fand sich ein passendes Kleidungsstück. Dabei war sogar das Fusselsieb seiner Waschmaschine analysiert worden. „Und allein damit können Sie eine Person zwei Jahre beschäftigen“, sagt ein Diplombiologe, der beim Landeskriminalamt als Fasersachverständiger arbeitet. „Aber wegen des großen Drucks auf die Polizei haben wir das 2007 doch durchsucht.“ Ohne Ergebnis. Und der Angeklagte selbst, der bisher den Eindruck macht, offen auf alle Fragen zu antworten, sagt: „Ich bin mir fast ganz sicher, dass die Spur nicht von mir war.“

War also zwischen dem Tod des Jungen gegen 17.30 Uhr und dessen Auffinden um 22 Uhr noch jemand an der Leiche? Man weiß es nicht. Die Mutter hingegen äußert eine traurige Gewissheit: „Tobias feiert keinen Geburtstag mehr.“ Vor drei Tagen wäre er 23 Jahre alt geworden.