Von Politikverdrossenheit findet sich auf den Stimmzetteln keine Spur. Es herrscht jedenfalls kein Mangel an Kandidaten für einen Platz im Bundestag. StZ-Korrespondent Armin Käfer sichtet das Bewerberfeld.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Wie groß der Andrang in den Wahllokalen sein wird, lässt sich im Moment noch nicht absehen. Der Andrang auf den Stimmzetteln ist jedenfalls immens. Wenn die Zahl der Parteien und Kandidaten, die um Plätze im Bundestag rangeln, einen Rückschluss auf die Popularität der repräsentativen Demokratie zulässt, dann dürfte von Politikverdrossenheit eigentlich keine Rede sein. Für die mindestens 598 Plätze im Parlament bewerben sich 4451 Bürger. Das ist beinahe ein Rekord. Seit der Wiedervereinigung hatte es nur 1998 noch mehr Bewerber gegeben. Damals waren es 5062.

 

Das Heer der Kandidaten spiegelt die kunterbunte Gesellschaft wieder. Es finden sich auf den Stimmzetteln so ziemlich alle Berufe: von A wie Altenpfleger bis Z wie Zahnarzthelferin. Auch ein Philosoph will Abgeordneter werden. Er konkurriert in Berlin mit einem Hundetrainer – und diversen anderen Exoten. Sogar sieben Seelsorger treten zur Wahl an – und das nicht einmal für die beiden Volksparteien, die das Christentum im Namen führen. Die Ökoexperten unter den Kandidaten stehen auch nicht allesamt auf der Liste der Grünen. Die Linke und die NPD haben zum Beispiel mehr Gärtner in ihren Reihen als Trittin & Co. Bei den Piraten fällt auf, dass sie mit Abstand die meisten Leute nominiert haben, die sich für Künstler halten. Zudem gibt es auf ihren Listen auffällig viele „ohne nähere Tätigkeitsangabe“.

Revolutionäre im Rentenalter

Der Durchschnittskandidat ist 47,4 Jahre alt. Das war schon bei der letzten Wahl so. Die älteste Truppe stellt nicht etwa die Rentnerpartei, sondern eine Liste mit dem Namen „Demokratie durch Volksabstimmung“. Diese plebiszitäre Avantgarde ist im Schnitt fast 70. Ähnlich viel Erfahrung kann die Deutsche Kommunistische Partei vorweisen. Ihre Revolutionäre haben auch schon das Rentenalter erreicht (66,7 Jahre im Schnitt).

Das Altersspektrum reicht von 18 bis 90. Den ältesten Kandidaten hat die NPD aufgeboten. Es ist ein Schauspieler, dessen Ruhm jedoch noch nicht den Weg ins Internet gefunden hat. Über ihn ist nur bekannt, dass er bei Parteitreffen gelegentlich „Gedichte aus seiner schlesischen Heimat“ vorträgt. Die Jüngste im Kandidatenfeld ist eine Schülerin aus Bayern, Jahrgang 1994. Sie tritt für „Die Violetten“ an, eine Gruppe mit aktuell 800 Mitgliedern, die sich „für spirituelle Politik“ einsetzt.

Stimmzettel zum Ausklappen wären praktisch

Manchmal sind die Namen der Kandidaten übrigens so sperrig, dass sie kaum durch den Schlitz in der Urne passen. Der schlimmste Fall ist da nicht etwa die liberale Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Gustav Wolf Viktor Asche Graf von Westarp, der für die Freien Wähler in Mecklenburg-Vorpommern kandidiert, läuft ihr in dieser Hinsicht den Rang ab. Es gibt ähnlich problematische Fälle, die fast einen Stimmzettel zum Ausklappen erforderlich machen: etwa Beatrix Amelie Ehrengard Eilika von Storch von der Alternative für Deutschland. Und selbst versierte Parlamentarier, die unter einem schicken kurzen Namen wie Eva Högl, die SPD-Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss, bekannt sind, firmieren in den Wahlunterlagen umständlich als Dr. Eva Alexandra Ingrid Irmgard Anna Högl.

Poesie aus der Feder eines Nebenerwerbslandwirts

Kurios ist auch die Liste der Einzelbewerber. Da gibt es zum Beispiel in Brandenburg einen Herrn, der „für feminismusfreie direkte Demokratie und Justizreformen“ antritt. In Bayern kandidiert Konrad Willibald Dippel. Sein Kennwort auf dem Stimmzettel liest sich wie die Zusammenfassung einer Rede am Wahlabend: „Herzlichen Dank für Ihrer Erststimme! Hoffnung ist wie Zucker im Tee; zwar klein, aber sie versüßt alles“. So steht das tatsächlich dort, wo die Konkurrenz nur CSU oder FDP hinschreibt. Herr Dippel ist übrigens nicht etwa Poet von Beruf, sondern Holzkaufmann und Nebenerwerbslandwirt.

Den militantesten Slogan hat sich der Einzelkämpfer Günter Hönig aus Wolfsburg ausgedacht. Der Mann ist Rentner, hat zuletzt – wie könnte es anders sein – 20 Jahre bei VW gearbeitet. Sein politisches Vorbild ist aber weder der ehemalige VW-Manager Peter Hartz noch der aktuelle VW-Aufsichtsrat Stephan Weil, nebenbei Ministerpräsident von Niedersachsen. Kandidat Hönig hat sich vielmehr Braveheart zum Idol erwählt. Den werden die meisten allenfalls in der Gestalt von Mel Gibson aus dem gleichnamigen Film kennen. In Wirklichkeit hieß der Mann William Wallace. Er war ein schottischer Freiheitskämpfer, der 1297 in der Schlacht von Stirling Bridge den englischen König Eduard I. das Fürchten lehrte. Hönig kämpft als „Opa Braveheart“ um Stimmen. Er träumt aber nicht wirklich vom Bundestag. In einem Interview sagt der Held auf die Frage, was er schon immer einmal machen wollte: „Nach Argentinien reisen.“ Dafür bleibt nach dem 22. September genügend Zeit.