300 Gäste erleben eine emotionale Achterbahnfahrt im Cannstatter Kursaal und spenden 280.835 Euro für den Verein Stelp. Als ein Syrer berichtet, wie sein Freund erschossen und er gefoltert wurde, schmerzt das Feiern bei einer achtstündigen Gala der Extreme.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Der Teppich draußen an der Fotowand ist rot – rot wie das Blut, das drinnen auf der Leinwand fließen wird. Serkan Eren trägt Sneakers zum Smoking. Der Aktivist des Hilfsvereins Stelp (Stuttgart helps) warnt seine 300 Gäste. Was gleich zu sehen sei, sei nichts für schwache Nerven. Wegschauen aber ist keine Lösung, wird bei dieser Gala der Extreme allen klar.

 

Im Zickzackkurs der Gefühle wird viele Stunden später eine unglaubliche Zahl auf der Bühne eingeblendet: 280.835 Euro. Mit diesem Rekorderlös endet ein gesellschaftliches Event, das unter die Haut geht, das für Genuss und Spaß sorgt, aber auch Schmerzen beim Feiern zufügt. „Die Diskrepanz könnte kaum größer sein“, hört man an den Tischen. Alle haben sich fein gemacht, die Promis hat man mit dem Porsche-Shuttle-Service heranchauffiert, um nun eine widersprüchliche Welt zu sehen, die aus den Fugen gerät. Die Welt ist unfair, ungerecht, gespalten. Mit einem Film, der eine Erschießung in Syrien zeigt, stellt Eren den Flüchtling Nael Almargerbi vor, der eindringlich über den Tod seines Freundes nach einer Demo berichtet und über seine Folter. 120 Tage lang saß Nael im Gefängnis. Dann wurde er rausgeholt und dachte, er werde erschossen. Sein Glück war, dass er im Gefangenenaustausch freikam. Es sind Schilderungen, die man erst mal verdauen muss, bevor man bereit ist für den nächste Menügang.

„Ich will euch den Abend nicht versauen“, sagt Serkan Eren

„Ich will euch den Abend nicht versauen“, sagt Eren, ein früherer Lehrer, der zwischen den Welten pendelt. Eben noch im Flüchtlingslager an der Grenze zu Syrien, lässt er nun die Champagnerkorken knallen. Versammelt seien Erfolgsverwöhnte, die was geleistet hätten und sich Karten für 250 bis 350 Euro leisten könnten. Eines sollten sie nie vergessen, bittet Eren: „Ihr habt eine Chance bekommen – andere auf dieser Welt nicht.“

Stargast Kool Savas kann erst gegen 2 Uhr auftreten

Für die anderen wird in dieser langen Nacht mit einem überfrachteten und sich immer noch mehr verspätenden Programm gesammelt. Stargast Kool Savas kann erst um 2 Uhr auftreten, geplant war als Höhepunkt vor Mitternacht. Ein anonymer Spender, emotional überwältigt von dem Dargebotenen, das oft harte Kost ist, entscheidet sich, einen Scheck über 50.000 Euro auszustellen. Ungläubig wird dieser auf der Bühne gezeigt. Bereits zur Begrüßung gibt es Standing Ovations für Serkan Eren, der den Dank an alle Mitstreiterinnen und Mitstreiter weitergibt. Von der Garderobenfrau bis zum Rapper Savas – alle wirken ohne Gage mit. „Ist irre, was Stelp auf die Beine stellt“, sagt der Rapper aus Berlin, der mal in Stuttgart gelebt hat. Mit dem Rekorderlös steht die Arbeit des Stuttgarter Vereins, der unkonventionell in zehn Ländern und auf vier Kontinenten vor Ort hilft, für lange Zeit auf sicheren Beinen.

Das Publikum ist deutlich jünger als beim Landespresseball

Der Landespresseball fällt aus – das gesellschaftliche Topereignis der Saison ist die Stelp-Gala unter 2 G mit einem deutlich jüngeren Publikum als beim großen Tanz der Medien. Wird’s eines der letzten großen Events in der vierten Welle? Evren Gezer, die moderieren sollte, meldet sich virtuell aus der Quarantäne, weil mit Corona infiziert trotz doppelter Impfung. Serkan Eren übernimmt ihren Job auch noch mit. Allein das Essen ist ein Statement und begeistert. Zwei vegane Gänge stammen von Sternekoch Serkan Güzelcoban (Kleinod in Öhringen), zwei von Bastian Pfeifer (BP Cooking). Es ist weit nach Mitternacht, als OB Frank Nopper (CDU) auf die Bühne steigt, um bei der Versteigerung zu Höchstgeboten zu motivieren. Ein junger Mann zahlt 25 000 Euro für ein Trikot von Ronaldo. Ein Krypto-Millionär soll’s sein, wird getuschelt.

OB Frank Nopper bleibt bei 1.30 Uhr.

Stuttgart ist eine der reichsten Städte in Baden-Württemberg, nur in Baden-Baden leben noch mehr Millionäre. Protzereien wie etwa in der Party-Metropole München sind in Stuttgart rar. Unsere Stadt kennt keine Schickeria – dafür ist die Hilfsbereitschaft umso größer. Stuttgart helps – fürwahr! Auf dieses Alleinstellungsmerkmal, das meilenweit vom Klischee des schwäbisches Geizes entfernt ist, kann OB Nopper stolz sein, der mit seiner Frau Gudrun Nopper tapfer bis 1.30 Uhr bleibt. Außerdem gesehen: die Ex-Fußballer Christian Gentner, Timo Hildebrand, Cacau, die Moderatoren Tatjana Geßler, Mustafa Göktas und Alexander „Sandy“ Franke, die Künstler Tim Bengel und Romulo Kuranyi, Kunsthändler Frank Zimmermann, die Kinderhospiz-Botschafterin Christina Semrau, die Lichtgestalt Dundu, die Regisseure Florian Fickel, Timo Jo. Mayer und viele andere.

Von Ginstr bis Porsche, von der Bar Jigger & Spoon bis zum Schoko-Virtuosen Kevin Kugel – so viele engagieren sich in dieser langen Nacht, liefern Großartiges kostenlos ab. Diese Nacht der Extreme, die acht Stunden dauert, wird noch lange im Gedächtnis bleiben – und Stuttgart kann stolz darauf sein.