Sex sells, zuminest nackte Haut. Diese ist auf dem Kalender von Kunststudenten in Fülle zu sehen, allerdings mit ironischem Einschlag. Ausgestellt sind die Bilder bei der Kalenderschau im Haus der Wirtschaft, der Graphische Klub Stuttgart zeigt hier 826 Kalender aus der ganzen Welt und zeichnet die 60 besten Exemplare aus.

Stuttgart - „Nackerte Weiber, die schamlos daher kommen und alles miesmachen, was braven Bürgern heilig ist, also vor allem schaffe, baue, investiere.“ Kann man so etwas, wie es in der Laudatio beschrieben wird, wirklich auszeichnen? Oder geht das gar nicht? In derartige Gewissensnöte hatte der Kalender, für den Studentinnen von der Medienwerkstatt der Kunstakademie splitternackt auf Baustellen posierten, die Jury für den Gregor International Calendar Award 2017 gebracht. Denn die Mädels um Justyna Koeke und Marie Lienhard haben sich ziemlich aus dem Fenster gelehnt, indem sie freizügig gegen die grassierende Bauwut protestierten. Mit ihren Kehrseiten, drei nackten Popos, haben sie der Stadt gezeigt, dass sie den Maulwürfen anheim gefallen sei. Mit ihrer Zivilcourage und ihrem witzigen politischen Statement haben sie die Jury schließlich überzeugt. Dem Kalender „Stuttgart under construction“ wurde ein Award of Excellence in der Kategorie Ausgezeichnetes Beispiel für aktiven Bürgerprotest verliehen.

 

Ob dieser Begleiter durch das Jahr zum Amüsieren oder Aufregen ist, kann jeder selbst entscheiden. Denn jetzt ist der Kalender im Haus der Wirtschaft ausgestellt. Zusammen mit 825 anderen Kalendern, die von Kreativen aus Deutschland, den USA, Afrika, Asien, Großbritannien, Frankreich, Ungarn, Slowenien, Israel, Österreich und der Schweiz zum Wettbewerb um den Gregor International Calendar Award eingereicht wurden. 60 davon wurden von vier Fachjurys ausgezeichnet.

Lesitungsschau der Druckindustrie

Seit 1950 veranstalten der Graphische Klub Stuttgart e.V., das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg und der Verband Druck und Medien in den ersten Wochen eines neuen Jahres diese Kalenderschau, die seit einigen Jahren im Titel Papst Gregor und seinem gregorianischen Kalender Tribut zollt. „Es ist quasi eine Leistungsschau der Druckindustrie“, erklärt Friedrich Müller, Vorsitzender des Graphischen Klubs und Sprecher der Jurys. Von den Juroren vergeben wurden nicht nur der Gregor 2017 als höchste Auszeichnung, sondern auch Preise für Fotokalender, für Nachwuchsarbeiten sowie in der Kategorie Self-Publisher.

Rot leuchtet ein Herz auf rauem Grund: „Herzblut“ heißt der Titel des Kalenders, der den Gregor 2017 erringen konnte und ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit, Freundschaft und Völkerverständigung darstellt. Jedes Blatt zeigt menschliche Figuren, einander zugetan, eingebettet in eine mit Symbolen reiche Landschaft. Und Lebensweisheiten, für die sich Kalendermacherin Cornelia Glanzmann-Schöne aus Lörrach und Basel von der Dichtung des Sufi-Mystiker Rumi aus dem 13. Jahrhunderts inspirieren ließ. Er wusste: „Öffne Deine Arme, wenn Du eine Umarmung willst.“

Das Herz hat offenbar Hochkonjunktur. Denn auch „Matters of Heart“ (Herzensangelegenheiten), der Kalender der Papierfabrik Scheufelen in Lenningen, gehört zur Riege der fünf Goldgewinner. Mit der brillanten Darstellung von Begriffen wie Geburt mit Matrioschka-Symbol oder Konzentration mit Mikado-Stäbchen, die das März-Blatt mit ihrem Reliefdruck haptisch erlebbar machen. Nicht nur der visuelle, auch der manuelle Eindruck besticht – etwa bei dem Kalender „Auf Kurs“, mit dem eine Schiffswerft für ihre traditionellen Holzboote wirbt. Die Idee der Osnabrücker Werbeagentur Tammen, diese Schiffbauerkunst durch ein Stück glänzendes Mahagoniholz, einem wahren Handschmeichler, fühlbar zu machen, wird passionierte Segler mindestens so begeistern wie die nautischen Momentaufnahmen. Gar nichts mit unseren herkömmlichen Kalendern hat die Kreation eines Japaners zu tun, der dafür 14 unterschiedliche Papiersorten aus den japanischen Regionen ganz traditionell mit einer roten Schnur gebunden hat.

Stadtmarketing wird sich freuen

Dass zum Exklusiv-Kreis der fünf Goldgewinner auch eine positive Stuttgart-Präsentation zählt, wird das Stadtmarketing freuen, mit dem die Jury ob ihres Preises für den Baustellen-Kalender fast Mitleid äußerte. Eine Baustelle ist zwar auch noch das künftige Stadtmuseum im Wilhelmpalais. Aber ehe es im Oktober dieses Jahres eröffnet wird, hat sich die Arge Lola schon mal im Magazin unter den gelagerten Schätzen umgesehen und für den Kalender „Speicherplatz“ einiges ans Licht geholt, was aus Kunst, Technik, Industrie und Politik ehemals zu Stuttgarts Ruhm und Reichtum beitrug und mittlerweile verschwunden ist: Zum Beispiel der Matrosenanzug der Firma Bleyle. Oder die Corseletten der Firma Prima Donna. Und die Kameras von Kodak.

Allein 650 Kalender sind von Fotografen gestaltet. Zum Gewinner kürte die Jury den Fotografen Michael Wolf, der in Hongkong lebt und unter dem Titel „Häusermeer“ Hochhausfassaden dieser Mega-Stadt ablichtete. „Die wichtigste Frage für die Jury“ verrät Friedrich Müller, „ist immer, ob man die Kalenderblätter wirklich vier Wochen lang ansehen will.“ Bei diesen Aufnahmen der Fassaden könne man fast wie ein Voyeur immer Neues entdecken: Was tut sich in den beleuchteten Wohnungen?

Ganz nah ran gegangen ist dagegen die Fotografin Esther Haase: Ihr standen in Berlin alte Menschen Modell und machten sich dafür mit Schminke und kessen Klamotten hübsch.

Wenn in Stuttgart die Sonne untergeht, geht sie anderswo auf der Welt gerade auf. Dieses astronomische Phänomen und die Möglichkeit, die Bewegung der Zeit global wahrzunehmen, stellte der Design-Student Julian Marburger in einem ganz und gar ungewöhnlichen Kalender dar und gewann damit den mit 1000 Euro dotierten Nachwuchspreis. Auch die Digitalisierung hat mittlerweile die Kalenderproduktion erreicht. Aber Müller hegt ungeachtet dessen eine unumstößliche Vorliebe für die „Bewahrer der schwarzen Kunst“: Wie Felix Riedel aus Rechberghausen einer ist, der für seinen Handdruckkalender ebenfalls ausgezeichnet wurde. Bedauerlicherweise sind die meisten dieser Kalender nicht im Handel. Umso mehr lohnt sich die Ausstellung im Haus der Wirtschaft: Bis zum 17. Februar, täglich von 11 bis 18 Uhr, Willi-Bleicher Straße 19, 70174 Stuttgart.