Abschied nehmen fällt oft schwer: der Altstar Peter Gabriel füllt am Freitag die Schleyerhalle – und einen Tag darauf tun dies die Scorpions.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Abschied zu nehmen fällt oft schwer. Kein Wunder also, dass auch echte Größen des Pop- und Rockgeschäfts, Peter Gabriel und die Scorpions, damit so ihre liebe Mühe haben. Peter Gabriel ging nach seiner letzten künstlerischen Häutung bereits vor zwei Jahren mit seinem „Blood“-Projekt auf Tournee, 2010 spielte er etwa auch in der Mannheimer SAP-Arena mit der jetzigen Besetzung nahezu das jetzige Programm, das er nun am Freitagabend in der mit 7500 Zuschauern fast ausverkauften bestuhlten Schleyerhalle vorbrachte. Aufgrund der riesigen Nachfrage, wie es in solchen Fällen immer gerne heißt, währt diese Tour nun schon zwei Jahre; zwischenzeitlich ist vor kurzem für alle live zu kurz gekommenen sogar schon die dazugehörige Live-Doppel-CD auf den Markt gebracht worden, aufgenommen wurde sie im vergangenen März im legendären Londoner Hammersmith Apollo.

 

Und die Scorpions? Sie kündigten vor zwei Jahren ihren Ausstieg aus dem Rock’n’Roll-Zirkus nebst der dazugehörigen Abschiedswelttournee an, die sie 2010 schon in die Stuttgarter Schleyerhalle führte. Am Samstagabend jedoch gastierten sie abermals an gleicher Stelle, die Abschiedswelttournee dauert noch immer an, denn, Sie ahnen es schon: aufgrund der überwältigenden Nachfrage unserer Fans . . .

Nun ja, Tina Turner hat immerhin schon gefühlte fünf Abschiedstourneen hinter sich, aber in ihrer an Facetten gewiss nicht armen Vita noch nie das gewagt, was die künstlerischen Biografien von den Scorpions und Peter Gabriel ebenfalls eint: den Crossover. Mit dem ist es bisweilen bekanntlich ja auch ein Kreuz. Der „Geigenpunk“ Nigel Kennedy, sein Instrumentenkollege David Garrett sowie die Sopranistin Reneé Fleming können klassisch betrachtet ein Lied davon fiedeln beziehungsweise tirilieren, wie schwierig der Grenzgang zwischen der so genannten ernsten Musik und der Unterhaltungsmusik ist. Umgekehrt wissen auch Tori Amos, Metallica oder Sting, wie schwierig die Annäherung an ein Orchesterinstrumentarium aus der Warte der elektrisch verstärkten Rock- und Popmusik sein kann. Auch die Scorpions sind in Sachen „Klassik meets Rock“ beschlagen: Im Jahr 2000 erschien ihr Crossoveralbum „Moment of Glory“, eingespielt mit immerhin den Berliner Philharmonikern; zumindest über den Habitus des Arrangeurs und Dirigenten Christian Kolonovits mit seinem Lederfrack (!) konnte man seinerzeit jedenfalls ganz gut schmunzeln.

Freund der großen Geste

Gleiches hätte man am Freitagabend in der Schleyerhalle natürlich auch über Ben Foster tun können, den Dirigenten und Vorsteher des gut vierzigköpfigen New Blood Orchestras. Auch er ist ein Freund der großen Geste, der überzeichneten Theatralik, affektheischend, vor allem aber aufgesetzt wirkt sein Dirigierstil, zumal das Sujet überhaupt keines melodramatischen In-die-Luft-Stocherns bedurft hätte. Denn er führt das ausschließlich mit akustischen Instrumenten besetzte und besonnen agierende Ensemble, das Peter Gabriel bei seinem Crossoverprojekt mit sehr besonnener Musik begleitet.

Das ist natürlich einerseits wahnsinnig konventionell, denn wer exzellente rein akustisch besetzte Bands und Kollektive hören möchte, wird hierzulande regelmäßig auf den Konzertkalendern im Karlsruher Tollhaus, im Heidelberger Karlstorbahnhof oder in der Schorndorfer Manufaktur fündig. Umgekehrt hat es dann aber doch einen besonderen Reiz. Denn der zweifelsohne vorzügliche Musiker Peter Gabriel setzt in seinem Programm auf vielerlei Erfrischendes.

Er verzichtet zum einen darauf, Gassenhauer aus seiner Solokarriere wie „Sledgehammer“ abzufeuern und erspart sich jegliche Reminiszenz an die von ihm gegründete Band Genesis schon dreimal. Er adaptiert für dieses Programm auch Stücke aus fremden Federn, aber er tut dies behutsam. Und er hat dabei eine sehr bemerkenswerte Auswahl getroffen: Auf dem vor zwei Jahren erschienenen gloriosen Album „Scratch my Back“, mit dem er (damals noch mit dem London Scrach Orchestra) die Grundlage für seine jetzige Tour legte, hat er etwa „Après Moi“ der wunderbaren russischstämmigen New Yorkerin Regina Spektor oder „My Body is a Cage“ des fabelhaften kanadischen Bandkollektivs Arcade Fire eingespielt.

Was macht eigentlich David Bowie?

Auf diesem Album findet sich auch jener gecoverte Song, mit dem Peter Gabriel am Freitagabend sein Konzert in der Schleyerhalle eröffnet. David Bowies Hymne „Heroes“. Sie passt bestens und könnte einen eigentlich gleich zum Grübeln darüber bringen, was David Bowie eigentlich die letzten Jahre so gemacht hat, oder ob sich Bowie mittlerweile längst in den Ruhestand verabschiedet hat. Doch gleich als zweites Stück folgt auch schon „My Body is a Cage“. Das Stück gewinnt durch die orchestrale Wucht der Gabriel’schen Interpretation ganz unbedingt, keine Frage. Umgekehrt besticht die Originalvorlage der Band aus Montreal (veröffentlicht auf dem superben Album „Neon Bible“) mit dem weltentrückten Gesang Win Butlers, den feinen Tenorhornlinien und den beiden Violinen in der fein ziselierten kammermusikalischen Anlage von Arcade Fire durch ihre Intimität.

Einstweilen also ein Unentschieden, das Gabriel dann aber doch noch zu einem knappen Auswärtssieg wandeln kann. Knapp, denn viele seiner eigenen Songs gewinnen durch die üppige Orchestrierung buchstäblich an Format, wie umgekehrt einiges auch durch diesen pastosen Soßenguss an filigraner Feinzeichnung verliert.

Exemplarisch wird dies bei den letzten zwei Songs vor der obligatorischen Zugabe hörbar: Es sind „Solsbury Hill“ und „Biko“, spät kommen diese zwei großen Hits des Solomusikers Peter Gabriel. „Solsbury Hill“ verliert durch die großkalibrige Instrumentierung gegenüber der Originaleinspielung, „Biko“ indes erklingt in einer geschmeidigen Neuinterpretation. Echt süß sind überdies die vom Blatt auf Deutsch abgelesenen Ansagen, mit denen der erfahrene Fahrensmann Gabriel die jüngsten Wendungen seiner beachtlichen Karriere hin zu einem gediegenen Erwachsenenunterhaltungsprogramm begleitet.

Klaus Meine bringt hinlänglich Routine mit

Aber auch der – wie passend – gelernte Starkstromelektriker Rudolf Schenker, der studierte Jurist Matthias Jabs und der einstige Lieferwagenfahrer Klaus Meine bringen hinlänglich Routine mit, um ein Publikum zu unterhalten. 13 000 Köpfe zählt es in ihrem Fall am Samstagabend in der nun unbestuhlten, seit Wochen ausverkauften Arena. Zwischen 3000 und 5000 Konzerte, die Schätzungen gehen da weit auseinander, haben sie mit den Scorpions bereits absolviert, seit das Gründungsmitglied Schenker die mit großem Abstand weltweit erfolgreichste deutsche Band 1965 in Hannover aus der Taufe hob.

Auch sie spielen, zumindest dem Durchschnittsalter des sehr reifen Publikums in der Schleyerhalle nach zu urteilen, Erwachsenenmusik. Die Zeit der Experimente liegt jedoch schon lange hinter ihnen, die Scorpions bieten eine Hardrock- und Powermetalshow reinsten Wassers mit allen dazugehörigen Ingredienzen: Pyrotechnik, breitbeinige Rockergesten, Flying-V-Elektrogitarre, sogar das längst ausgestorben gewähnte gute alte Schlagzeugsolo feiert fade Urständ.

Ein paar ihrer Hits, „The Zoo“, „The best is yet to come“ und „Black out“, verstreuen sie auf ihren ausufernden Auftritt, in der Mitte der Show präsentieren sie sich den Fans auf dem in die Halle auskragenden Laufsteg bei einem kleinen Interludium mit „Send me an Angel“ und „Holiday“ balladesk hautnah. Der Sänger Klaus Meine beglückt das Publikum nicht nur mit seinem zur Perfektion gereiften Schellenkranzspiel, sondern auch noch mit der zwischenzeitlichen Bekanntgabe des Spielstands beim DFB-Pokalfinale.

Die ersten Besucher trollen sich zum Ausgang

Als letztes Stück kommt am Samstagabend zunächst feuerwerksumkracht ihr Kracher „Big City Lights“; und während die ersten Besucher sich bereits zum Ausgang trollen (nicht dass wir nachher noch im Stau stehen), wird – exakt wie bei Peter Gabriel auch – zur einzigen, aus drei Stücken bestehenden und haargenau so offenbar zum Standard bei Arenashows gewordenen Zugabe angesetzt. „Still loving you“, „Wind of Change“ sowie „Rock you like a Hurricane“, ihre drei größten Welterfolge, serviert die sehr deutschen Band Scorpions zum Abschied.

Zum Abschied? „Diese Abschiedstour ist noch lange nicht zu Ende“, brüllt Meine gleich in seiner ersten Ansage in die Menge – und man weiß nicht, ob er damit nur den Abend in der Schleyerhalle, den noch bis zum Dezember gefüllten Tourkalender der Scorpions oder etwas ganz anderes meint. Auch wenn die Scorpions da weniger Berührungsängste als andere haben dürften, müssten sie eigentlich darauf achtgeben, sich mit einer endlos fortgesetzten Abschiedstournee nicht irgendwann der Lächerlichkeit preiszugeben. „Wir wollen in Würde abtreten“, beantworteten sie schließlich vor zwei Jahren in einem Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung die ewige Gretchenfrage, ob man jemals zu alt für den Showzirkus wird.

Peter Gabriel, wie die Herren von den Scorpions im besten Renteneintrittsalter, der – zwei Jahre nach dem Schlüpfen der Skorpione – 1967 die Band Genesis gründete, hat diese Frage für sich würdig, schlüssig und im Übrigen auch sehr lyrisch und vielschichtig beantwortet. In seinem Stück „Solsbury Hill“, in dem er dereinst seinen Abgang bei Genesis künstlerisch verarbeitet hat, singt er, auch in der Schleyerhalle: „When Illusion spin her net / I’m never where I want to be / and Liberty she Pirouette / When I think that I am free.“

Freiheit ist bekanntlich eben immer auch die Freiheit, anders zu denken, zumal, wenn die Nachfrage des Publikums nach wie vor so groß ist: Mal sehen also, wie lange Peter Gabriel und die Scorpions in der großen Illusionsmaschine namens Rock’n’Roll noch ihre Pirouetten drehen werden.