Die Zahl der Ratluk-Zuckerbäcker auf dem Balkan ist zwar geschrumpft, die Dienste der letzten Vertreter der Zunft sind aber immer noch gefragt: In Serbien ist der Appetit auf die traditionelle Süßigkeit ungebrochen.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Aus dem dampfenden Kessel durchzieht ein süßlicher Duft die Zuckerbäckerstube. Nur Frühaufsteher sind im Gewerbe von Zivorad Bosiljcic gefragt. Bereits um sieben Uhr morgens müsse der erste Kessel mit Ratluk angesetzt werden, berichtet der Confiseur in der serbischen Hauptstadt Belgrad, während er sorgfältig die Farbe und die Konsistenz des von seiner Kelle tropfenden Gelees überprüft. Nichts von dem, was er von seinem Großvater und Vater erlernt habe, habe sich geändert, sagt der Chef des 1936 gegründeten Familienbetriebs: „Arbeit, Arbeit, Arbeit – das ist das ganze Geheimnis von gutem Ratluk.“

 

Ratluk nennt sich in den Staaten des früheren Jugoslawiens das türkische Lokum, das im deutschsprachigen Raum auch „türkische Früchte“ genannt wird. Obwohl die industrielle Konkurrenz, aber auch der für kleine Selbstständige nicht immer günstige Zeitenlauf die Zahl der Ratluk-Zuckerbäcker in den letzten Jahrzehnten auf dem Balkan kräftig reduziert haben, sind die geleeartigen, mit Puderzucker bedeckten Würfel im Südosten des Kontinents weiter gefragt: In Serbien ist der Heißhunger nach dem süßen Erbe der Osmanen ungebrochen.

Erst billigerer Zucker machte Ratluk populär

Ratluk sei ein „einfaches und sehr altes Produkt wie Brot“; das in der Türkei schon seit Jahrhunderten gefertigt worden sei, berichtet der Familienvater. Er nimmt eine Lage von am Vortag gekochten und über Nacht erkaltetem Haselnuss-Ratluk aus dem Blech und legt sie in ein Puderzuckerbett zum in Würfel schneiden. Erst als die Zuckerpreise zu Beginn des 19. Jahrhundert sanken, sei Ratluk zu einem im ganzen Osmanischen Reich populären Massenprodukt geworden: „Ob serbisches oder türkisches, griechisches oder mazedonisches Ratluk: Jedes Land hat seine eigenen Spezialitäten. Aber im Prinzip sind die Zutaten dieselben.“

Der Zucker hat den einst zum Süßen verwendeten Honig ersetzt, Maisstärke das ursprünglich zum Abbinden verwendete Mehl abgelöst. Außer Wasser, Zucker, Maisstärke und Zitronensäure wandern bei Zuckerbäcker Bosiljcic nur natürliche Aromen in den Kessel. Mit anderen Geschmacksvorlieben, aber auch den höheren Nusspreisen erklärt der Serbe den geringeren Walnuss-, Pistazien- oder Mandelgehalt im serbischen Ratluk. Andere Essgewohnheiten seien schuld an dem etwas niedrigeren Zuckergehalt als im türkischen Lokum: „Die Türken essen zwei, drei Würfel am Tag. Bei uns futtern die Leute oft gleich die ganze Packung auf.“

Rosen-Ratluk mit Walnuss bleibt der Verkaufsrenner

Sein Großvater habe ursprünglich zunächst nur die klassischen und auch in der Parfümherstellung verwendeten Rose- und Bergamotte-Aromen zur Ratluk-Herstellung verwendet, berichtet Bosiljcic. Mittlerweile hat er von Pfefferminz-, über Kokos- bis zu Anas-Ratluk zwar noch weitere 15 Sorten im Angebot: „Doch das Rosen-Ratluk mit Walnuss bleibt unsere am besten verkaufte Sorte – und muss immer in den Verkaufsregalen liegen.“

Als sein Großvater 1936 zunächst mit der Herstellung von Bonbons und später auch von Ratluk begann, habe es in Belgrad 120 Zuckerbäcker gegeben, erzählt der 49-Jährige. Heute ist sein vierköpfiger Familienbetrieb der letzte traditionelle Ratluk-Confiseur in der Hauptstadt – „und vermutlich in ganz Serbien“.

Traditionelle Mokka-Hochburg Sarajevo

Für den Schwund seiner Zunft nennt der Zuckerbäcker außer der industriellen Konkurrenz mehrere Gründe. Zum einen hätten die sozialistischen Machthaber im früheren Jugoslawien selbstständige Handwerker eher misstrauisch beäugt und für „verdorbene Kapitalisten“ gehalten: „Viele Werkstätten und Maschinen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg beschlagnahmt oder zerstört, um die Leute in die Staatsfirmen zu zwingen“, sagt er. Zum anderen habe sich der Markt verändert und seien die traditionellen Wirtshäuser der sogenannten Kafanas auf dem Rückzug.

In den neuen Cafés würden in Serbien oft nur „neue“ Kaffeesorten wie Espresso, Cappuccino oder Nescafe ausgeschenkt statt des traditionell mit einem Würfel Ratluk kredenzten türkischen Kaffees, bedauert Bosiljcic. Ganz anders sei die Lage in Bosniens Mokka-Hochburg Sarajevo: „Dort wird meist noch immer frisch aufgebrühter Kaffee mit Ratluk serviert.“

Ein weiteres „Traditionsproblem“ sei für kleinere Familienbetriebe zudem die Nachfolgefrage: „Manche Zuckerbäcker haben auch aufgegeben, weil sie keinen Sohn hatten, der den Betrieb übernehmen konnte oder wollte.“ Dabei könnten Frauen genauso gut Ratluk kochen wie Männer, sagt der Vater drei Töchter – und lacht: „Mich plagen keine Nachfolgerprobleme. Wenn manche Kollegen eher auf ihren Verstand statt auf die Tradition gehört hätten, gebe es in Belgrad sicher heute noch zwei, drei Betriebe mehr, die Ratluk fertigen.“