Man wähnt sich als was Besseres, man glaubt sich auf der Seite der politischen Moral. Aber: wer nicht zur Wahl geht schadet der Demokratie und stärkt die Radikalen – meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Da sitzt ein bekennender Nichtwähler profitlich-provozierend bei Günther Jauch und reckt seinen ausladenden Wohlstandsbauch ungeniert den Kameras entgegen. Das Hemd darüber ist ein bisschen eng und wird von einem stark gefährdeten Knopf gerade noch zusammengehalten; das Gesicht des Mannes glüht vor lauter Selbstzufriedenheit, während er über diese schrecklichen Politiker ablästert, die nichts mehr an sich haben von der Konsequenz und vom Charisma eines Franz Josef Strauß oder Herbert Wehner. Also wird er am 22. September daheim bleiben – einer von rund dreißig Prozent der Wahlberechtigten, von denen sich viele in ihrer Rolle ausgesprochen wohl und gerechtfertigt fühlen, ja mehr: die sich darin gefallen und mit Wonne der Öffentlichkeit als Verweigerer präsentieren.

 

Das lässt sich ja auch hübsch verkaufen. Man ist nicht wie jeder, man wähnt sich als was Besseres, man glaubt sich auf der Seite der politischen Moral. In Wahrheit aber hocken diese Leute in einer Art Bundeswirtshaus beim Bier und produzieren ein unsägliches, die Demokratie herabwürdigendes Stammtischgeschwätz: Politiker seien alle Lügner, und sie verschleierten die Wirklichkeit. Mit dem Kreuz auf dem Wahlzettel könne man doch nichts verändern. Kein einziges Parteiprogramm entspräche den eigenen Vorstellungen. Alle Parteien seien gleich. Auch habe man alles Mögliche erwartet, mehr Rente, mehr dies, mehr das, man kommt halt zu kurz, ist beleidigt, benachteiligt, hofft vergeblich. Und allemal hört man von diesen Pharisäern kein Wir, sondern nur das Ich, Ich, Ich und Ich.

Ein journalistischer Pfau

Klar, da hat jeder etwas beizutragen, und es bedürfte der Aufklärung, etwa darüber, dass nicht alle Interessen gleichzeitig zum Zuge kommen können, dass mal die Kita, mal der Sportplatz an der Reihe ist, dass die Politik nicht nur an die Alten, sondern auch an die Jungen denken muss, dass Programme zu verabschieden relativ einfach ist, sie umzusetzen jedoch ein schwieriges und langwieriges Geschäft, an dessen Ende nie mehr als ein Kompromiss erwartet werden kann.

Aber nein, da gibt es Journalisten wie den geschäftstüchtigen Herrn Jauch, der ein halbes Dutzend Bürger und Promis zu Wort kommen lässt, die alle glauben, politisch gekränkt sein zu müssen. Zur besten Sendezeit dürfen sie ihre inhaltslosen und ignoranten Meinungen zum Besten geben und für das Nichtwählen werben.

Da gibt es vor diesem Forum auch den unerträglich eitlen Kollegen Gabor Steingart, inzwischen Mitglied der Geschäftsführung des „Handelsblatts“. Schon vor der letzten Wahl hat er sich in seiner Rolle als Nichtwähler gesonnt und eine Schmähschrift zum Thema verfasst. Jetzt wärmt er dieses Abgestandene noch einmal auf, rügt die böse, uneinsichtige Kanzlerin, weil sie sein Buch offenkundig nicht gelesen und seine Anweisungen nicht brav befolgt hat. Na so was! Ein Pfau, der vor den politisch Ahnungslosen sein Rad schlägt.

Das darf doch nicht wahr sein!

So viel eitler Unsinn ist kaum zu ertragen. Aber er ist populär. Das hören und lesen die Leute gern, es fügt sich ein ins Ressentiment geladene Klischee von der Politik. Gleichwohl stimmt rein gar nichts an dem, was solche aggressiv bekennenden Nichtwähler vorbringen. Weder sind alle Politiker Lügner – sie sind es so wenig wie alle Ärzte Pfuscher oder alle Journalisten Schmierfinken sind –, noch kann man mit dem Stimmzettel nichts ausrichten. Helmut Kohl ist abgewählt worden, Gerhard Schröder auch, ebenso in jüngster Zeit die Landesregierungen von Stefan Mappus und David McAllister. Was will man eigentlich mehr? Und dann auch das noch: Franz Josef Strauß oder Herbert Wehner als Vorbilder, zwei unbeherrschte Machtmenschen mit dunklen Seiten in ihrer Vita, nach denen wir uns sehnen müssten?

Das darf doch nicht wahr sein!

Natürlich sind die Parteien auch nicht verwechselbar, sondern durchaus unterscheidbar. Man muss sich halt die Mühe machen, ein bisschen genauer hinzusehen. Und darum geht es. Der Stimmzettel ist ein Machtinstrument, und das setzt Verantwortung bei dem voraus, der damit umzugehen hat. Aber es ist ja so einfach über die Politik zu schimpfen und Dampf abzulassen. Es ist aber sehr schwer, Politiker zu sein und Politik zu gestalten. Und heute, in den Zeiten der Europäisierung, Globalisierung und Aufsplitterung jeglicher Macht, ist es gewiss noch viel schwerer, als es jemals seit Bestehen der Bundesrepublik war. Mit Stammtischweisheiten kommt man da nicht weit.

Doch allen Unübersichtlichkeiten zum Trotz ist es wunderbar, dass wir Bürger Einfluss nehmen und zur Wahl gehen können. Wie lange und wie heftig ist in der westlichen Welt und anderswo für dieses Recht gekämpft worden. Und nun soll es nichts gelten? Wer nicht zur Wahl geht – ob aus Bequemlichkeit, aus Gleichgültigkeit oder aus Gründen des bewussten Protests –, macht nichts besser, als es ist. Ganz im Gegenteil: der entzieht der Demokratie den Lebenssaft, und auch die nicht abgegebenen Stimmen sind natürlich Stimmen. Sie schlagen überall dort positiv zu Buche, wo Parteien – oft sind es radikale mit ihren eindimensionalen Parolen – die Leute an die Urnen bringen. Geschwächt sehen sich die Gemäßigten, deren Wähler zu Hause bleiben. Die großen Volksparteien, vor allem die Sozialdemokraten, können ein trauriges Lied davon singen.