Auf dem Papier ist die Zahl der Betroffenen nicht gestiegen. Aber Forscher sind sicher: Die Statistiken bilden die Lebensrealität armer Familien nicht ab.

Korrespondenten: Tobias Peter (pet)

Jeder Fünfte in Deutschland ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das geht aus Daten hervor, die das Statistische Bundesamt für das Jahr 2023 veröffentlicht hat. Konkret geht es dabei um 17,7 Millionen Betroffene – mehr als 21 Prozent der Bevölkerung. Damit ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr gleichbleibend hoch geblieben. Doch was bedeuten die Zahlen konkret, auch für die Debatten über Bürgergeld und Kindergrundsicherung? Das Wichtigste in Fragen und Antworten.

 

Wie werden die Zahlen zur Armut berechnet?

In der Europäischen Union gelten Menschen dann als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. In dieser Berechnung wird auch berücksichtigt, mit wie vielen Personen jemand in einem Haushalt lebt – und ob es sich um Erwachsene oder Kinder handelt. Nach dieser Definition ist jeder Siebte in Deutschland von Armut bedroht – also 14,3 Prozent der Bevölkerung oder knapp zwölf Millionen Menschen.

Und wieso heißt es dann, jeder Fünfte sei von Armut oder sozialer Ausgrenzung gefährdet?

Zu denen, die nach der beschriebenen Rechenmethode armutsgefährdet sind, werden noch zwei weitere Personengruppen hinzugerechnet. Das sind zum einen Menschen, die in Haushalten leben, die von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen sind. Das bedeutet beispielsweise, dass sie Mieten und Rechnungen nicht rechtzeitig bezahlen können und die Wohnung nicht angemessen heizen können. Die andere Gruppe sind Menschen, die in Haushalten leben, die vom Erwerbsleben weitgehend abgeschnitten sind. Natürlich gibt es zwischen allen drei Gruppen erhebliche Schnittmengen.

Was ist der Vorteil der gängigen Armutsdefinition?

Armut lässt sich nicht – als wäre sie irgendein Gegenstand – mit dem Zollstock vermessen. Um Veränderungen beobachten zu können, braucht es also eine Definition. Der Blick darauf, ob jemand über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt, hat einen großen Vorteil: Es wird nicht nur die blanke materielle Armut erfasst, sondern auch ob jemand von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen ist. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Kinder kein Geschenk zum Kindergeburtstag mitbringen können.

Was ist der Nachteil an der Art, wie Armut definiert ist?

Eben weil sich Armut nicht mit dem Zollstock vermessen lässt, geht jede Definition mit Verzerrungen der Realität einher. Wenn zum Beispiel das mittlere Einkommen deutlich steigt, gibt es womöglich, statistisch betrachtet, deutlich mehr arme Menschen – auch dann, wenn es ihnen materiell kaum schlechter geht als vorher. Gleichzeitig können Familien aus der unteren Mittelschicht durch gestiegene Lebensmittelpreise unter Druck geraten, ohne dass sie der statistischen Definition nach arm sind. Der statistische Armutsbegriff ist dann blind für tatsächliche Armut.

In Deutschland ist in den vergangenen Monaten viel über das Bürgergeld gestritten worden. Wäre es möglich – durch eine veränderte Definition dessen, was jemand braucht – den Regelsatz drastisch zu senken?

Nein. Der Regelsatz wird nach einem bestimmten, sehr komplexen Verfahren berechnet. Es wäre rechtlich möglich, an der Berechnungsweise etwas zu verändern. Das Ergebnis müsste aber am Ende ähnlich sein wie jetzt, um juristisch standzuhalten. Das Verfassungsgericht hat entschieden, dass der Regelsatz so ausgestaltet sein muss, dass er für die „physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ ausreichen muss.

Die Ampel-Koalition streitet über die Kindergrundsicherung. Wenn sie dennoch kommen sollte: Wird sich dann Kinderarmut deutlich verringern?

Mindestens im ersten Schritt lautet die Antwort nein. Falls die Ampel sich auf die Kindergrundsicherung einigt, gilt dennoch: Bislang sind nur 2,4 Milliarden Euro zusätzliches Geld eingeplant, von dem viel in Verwaltung zu fließen droht. Bislang erreicht der Kinderzuschlag viele einkommensschwache Familien nicht, obwohl er ihnen zusteht – vor allem, weil sie nicht von ihrem Anspruch wissen. Falls dieser Umstand tatsächlich, zumindest schrittweise, behoben wird, wäre das eine Verbesserung.