Die Geschwister Kurz wurden als Kleinkinder von ihren Eltern getrennt und ins Heim gesteckt, weil ihr Vater als „Halbzigeuner“ klassifiziert wurde. Vier Stolpersteine in Bad Cannstatt erinnern an ihre Ermordung in Auschwitz. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine - Die Menschen hinter den Namen“.

Die Not muss groß gewesen sein in der Dachkammer ohne Wasseranschluss in der Badergasse 6 in Bad Cannstatt. Hier lebten ab Mitte November 1938 der Hilfsarbeiter Otto Kurz, seine Frau Franziska und ihre drei ihrer vier Kinder: Sonja (drei Jahre), Thomas (fast zwei) und Albert (fünf Monate).

 

Der älteste Sohn der armen Familie, Otto (viereinhalb), wohnte überwiegend bei den Großeltern, ebenfalls in Bad Cannstatt. Die monatliche Miete betrug 40 Reichsmark, die Mittel waren knapp und die seelischen Qualen mutmaßlich immens. Und dann erschien am Tag vor Heiligabend 1938 auch noch eine Polizeifürsorgerin in der Dachkammer, die anschließend dem Jugendamt von unterernährten Kindern und streitenden Eltern berichtete.

Das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt ordnete am 1. Februar 1939 zunächst die vorläufige Fürsorgeerziehung für die drei Kinder an – unter anderem wegen „Unzulänglichkeit der Erziehung“. Am 18. April wurde den Eltern das Sorgerecht endgültig entzogen.

Stephan M. Janker, der im Stolperstein-Buch „Spuren vergessener Nachbarn“ über die Geschwister Kurz einen Aufsatz geschrieben hat, auf dem auch dieser Zeitungstext basiert, hält angesichts der unzureichenden Wohnverhältnisse und der Zerrüttung der Ehe die richterliche Entscheidung „zugunsten des leiblichen und geistigen Wohls der Kinder“ in Teilen der Begründung für „auch heute noch plausibel“.

Blick in die Badergasse in Bad Cannstatt im Jahr 1942 Foto: Stadtarchiv Stuttgart/5397

Alarmierend findet der Historiker allerdings die Formulierungen des Gerichts, dass Otto Kurz‘ Mutter und seine erste Ehefrau „Zigeunerinnen“ gewesen seien und er „selbst dieses Aussehen habe“. „Gab es denn damals keine Alternative für eine in Not geratene, kinderreiche Familie als deren Auflösung?“, fragt der langjährige Rottenburger Diözesanhistoriker.

In alten Akten fand er erschreckende Behörden-Sätze, die vermuten lassen, dass bei der Sorgerechtsentscheidung im Fall Kurz der Rassenwahn der Nazis eine größere Rolle spielte als das Wohl der Kinder: „Die ganze Familie Kurz muss als völkisch minderwertig bezeichnet werden“, hieß es in einem Akt. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 bot den Behörden die Legitimation, die Schwestern von Otto Kurz zu drangsalieren; er selbst wurde 1936 zu Zwangsarbeit in der Beschäftigungs- und Bewahrungsanstalt Buttenhausen verpflichtet.

Anweisung zur Auflösung „asozialer“ Familien

Die Familie Kurz befand sich im Visier der Behörden, Otto Kurz wurde nach seiner Entlassung aus Buttenhausen als „Asozialer“, „Trinker“ und „Halbzigeuner“ geführt. Die Auflösung seiner Familie Anfang 1939 entsprach der Handlungsmaxime, die das Stuttgarter Wohlfahrtsamt Mitte 1940 verlauten ließ: „Ist die ganze Familie asozial, so wird sie aufgelöst. Die Ehegatten werden getrennt untergebracht und die Kinder in geeignete Pflege gegeben.“ Bereits im Februar 1939 wurden die Geschwister Sonja, Thomas und Albert Kurz in das Kinderheim St. Josef in Baindt bei Ravensburg gebracht, der älteste Sohn Otto folgte im Mai, Franziska Kurz reiste zu ihrer Mutter.

Die Geschwister Kurz, die ihre Eltern nie wieder sahen, wuchsen im Josefsheim Baindt unter der Pflege Heiligenbronner Franziskanerinnen heran, doch seit dem Württembergischen Heimerlass vom November 1938 hatte der Landesjugendarzt nach „erbbiologischen Gesichtspunkten“ über das Schicksal von Fürsorgezöglingen zu entscheiden: Für schulpflichtige „Zigeuner und Zigeunerähnliche“ war eine spezielle Erziehungsanstalt bestimmt worden – die St. Josefspflege Mulfingen bei Künzelsau.

Die Sozialverwaltung war in die Nazi-Verbrechen verstrickt

Im Foyer des Stuttgarter Jugendamtes steht seit dem Juni 2000 ein Denkmal für die „Mulfinger Kinder“: Eine Stele mit stilisierten Aktenordnern erinnert auch an „die Verstrickung der Sozialverwaltung und der Sozialen Arbeit in nationalsozialistische Verbrechen“, wie es auf der Website der Stadt Stuttgart heißt. Otto, Sonja und Thomas Kurz wurden zwischen April 1940 und August 1943 jeweils zu ihrer Einschulung nach Mulfingen gebracht; Albert wäre 1944 in die Schule gekommen, an der Eva Justin ihre wissenschaftlich absurden Untersuchungen anstellte, die in ihre Doktorarbeit „Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeuner und ihrer Nachkommen“ einflossen.

Im Zug von Crailsheim nach Auschwitz

Es kam noch schlimmer: Ein Erlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 28. Januar 1944 löste eine Fahndung nach Sintikindern in Heimerziehung aus, mit dem Ziel ihrer Deportation ins Vernichtungslager Aschwitz-Birkenau. Am 9. Mai 1944 wurden Otto, Sonja und Thomas Kurz und 30 weitere Kinder aus Mulfingen von drei Gendarmen mit einem Postbus abgeholt. Vom Bahnhof Crailsheim fuhr der „Zigeuner-Sammeltransport“ – nun auch mit Albert, dem kleinen Bruder – in mehr als 50 Stunden nach Auschwitz, wo die vier Geschwister Kurz am 12. Mai Häftlingsnummern in den Arm tätowiert bekamen. Sie kamen in den „Waiseblock“. Am Abend des 2. Augusts 1944 wurden Otto, Sonja, Thomas und Albert Kurz und die anderen Insassen des Waisenblocks mit Lastwagen zu den Gaskammern des Krematoriums V gebracht und dort ermordert. Vier Stolpersteine vor dem Haus in der Badergasse 6 in Bad Cannstatt erinnern an sie.