Im Hauptbahnhof kreuzen sich die Wege der Reisenden. Manche haben schon Heimweh, bevor sie losfahren. Andere wissen, es wird lange dauern, bis sie in ihre Heimat zurückkehren.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Die Vorbereitungen für die Erlangung des großen Sportabzeichens in Bahnrot am Stuttgarter Hauptbahnhof haben begonnen. Der Parcours zum Gleis ist neu ausgewiesen und damit länger geworden. Die Trainings- und auch Wettbewerbsstrecke für Reisende wird also noch ein bisschen anspruchsvoller. Auch für die, die eigentlich gar nicht so scharf auf dieses Ausdauertraining sind. Und für viele ist jetzt auch in herausgehobener Art und Weise die Frage interessant, ob sie den Weg überhaupt finden, der sie zum Zug und hinaus aus Stuttgart führt. Für jeden Bauabschnitt in Richtung neuer Bahnhof gilt: neue Stufe neues Glück. Man muss wohl dazu übergehen, das alles sportlich zu sehen. Oder als kleine Episode im großen Weltgeschehen.

 

Heimweh schon in Feuerbach

Denn es gerät leicht aus dem Blick, dass ein Bahnhof ja nicht nur eine tägliche logistische Herausforderung ist und jeden Montag eine Demonstration. Das natürlich auch. Aber ein Bahnhof und das Geschehen dort sind auch Leben in der wahrscheinlich kondensiertesten Form. Von beschwingt bis todtraurig. Das alles steht für Aufbruch und Ankunft. Hier lassen die Reisenden – wenn auch nur für kurze Zeit – zurück, was ihnen wichtig ist. Es soll Menschen geben, die brauchen schon ein Taschentuch, wenn der Zug durch Feuerbach fährt und sie bereits dort Heimweh nach zu Hause haben und die Tage zählen, bis sie wieder im Stuttgarter Wirrwarr zurück sind. Dabei begeben sie sich freiwillig auf die Reise. Aber so sind wir halt.

Privilegiert mit Formular

Immer haben wir es dabei eilig, weil wir den Anschluss nicht verpassen wollen oder dürfen. Warum soll das Leben auf einem Bahnhof anders funktionieren als das draußen. Dabei dreht sich die Welt erstaunlicherweise weiter, wenn wir wegen Störungen im Betriebsablauf einen späteren Zug nehmen (müssen). Manchmal hilft ein bisschen Abstand von der eigenen Betriebsamkeit. Aber das ist ja eine der schwierigsten Übungen überhaupt. Dabei gibt es doch für solch privilegierte Fälle das obligatorische Fahrgastrechte-Formular. Im Idealfall schon am Sitzplatz überreicht.

Rückkehr in die Heimat ungewiss

Denn es gibt auch das Reisen ohne diesen doppelten Boden. Es gibt auch die Menschen, die in Stuttgart ankommen, ohne dort je hingewollt zu haben. Weil sie bis vor ein paar Wochen keinen Grund hatten, ihre Heimat zu verlassen. Es ist das wahrscheinlich traurigste Gleis, an dem seit einiger Zeit Frauen und Kinder aus der Ukraine ankommen. Erschöpft, desillusioniert, mit suchendem Blick. Mit dem Wunsch, so schnell wie möglich wieder die Rückreise in ihr Land antreten zu können, aus dem sie die Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder vertrieben hat. Manchmal werden sie abgeholt von Menschen, die Schilder mit ukrainischen Nachrichten vor sich halten und wohl schon auf die Ankömmlinge gewartet haben. Dann blitzt kurz so etwas wie Hoffnung auf. Wenigstens das: ein bisschen Hilfe in Zeiten großer Verzweiflung.

Da schnurrt die Suche nach dem richtigen Weg zum Gleis auf eine doch recht nebensächliche Frage zusammen. Jedes Gejammere um Verspätung erscheint einem peinlich und banal angesichts dieser anderen Reisen in eine ungewisse Zukunft.