Das Österreich, das uns die Dokumentarfilme von Ulrich Seidl zeigen, ist eines der Ränder, der Schrullen, der Perversionen. Nun dürfen wir in die Keller fremder Menschen blicken – und auf geheime Wünsche und Freuden.

Stuttgart - Nur Morgenrock und Schlappen, mehr braucht die Dame nicht, wenn sie die Wohnung verlässt. Weit hat sie es ja nicht. Durch das gesichtslose Treppenhaus geht es ein paar Etagen hinunter, durch eine Metalltür zu ihren Kindern. Die sind ordentlich in Pappkartons verpackt, zwischen Koffern und anderen Dingen, die man nicht tagtäglich braucht. Vorsichtig zieht die Frau einen der Kartons hervor und holt das Neugeborene aus seinem Seidenpapiernestchen. „Guten Morgen, Schatzi!“, begrüßt sie die täuschend echte Kopie eines Babys, die sie zärtlich an die Wange drückt.

 

Obwohl es sich bei den Säuglingen nur um kunstvoll aus Silikon modellierte Puppen handelt, beschleicht uns ein mulmiges Gefühl. „Im Keller“ heißt Ulrich Seidls neuer Dokumentarfilm, den er in mehreren Souterrains österreichischer Bürger gedreht hat. Unweigerlich drängen sich die Fälle Fritzl und Kampusch ins Gedächtnis: die Hobbyräume gewöhnlicher Einfamilienhäuser als Verliese.

Ein Prosit auf den Nazikrempel

Schon 2010 sprach der Regisseur in einem Interview über seine Arbeit an dem Film und bezeichnete diese spektakulären Kriminalfälle als Anstoß, sich „auf die Recherche in den Untergrund“ Österreichs zu begeben. Was Seidl in den verborgenen Kammern aufstöbert, ist zwar nicht so schockierend, wie es der Ausgangspunkt seiner Recherche vermuten lässt, bizarr sind die meisten Szenen aber doch.

Geschmacklos und künstlich: das Private

Ein Mann erweist sich als eifriger Sammler von Nazidevotionalien, der im Untergeschoss seines Wohnhauses ein gruseliges zweites Wohnzimmer, vollgestopft mit SS-Uniformen, Hitler-Porträts und Orden, eingerichtet hat. Mit seinen Kumpels aus dem Musikverein stimmt er inmitten des braunen Krempels „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ an.

Seidl besucht außerdem ein Ehepaar, das sich ein Sadomaso-Paradies geschaffen hat. Er leckt die Klobrille sauber, während sie über das Wesen ihrer Beziehung plaudert. Ein anderes Paar hockt wie ausgestopft hinter der Hausbar, während auf der Stereoanlage alte Schlager dudeln. Außerdem ballert ein Opernarien trällernder Waffennarr mit Gleichgesinnten auf Zielscheiben. Zwischendurch sinnieren sie über die Niedertracht von Ausländern.

Vom Leben der Menschen außerhalb ihrer Rückzugsorte erfährt man praktisch nichts. Seidl begrenzt seine Protagonisten auf jene Privatsphäre, die sonst nur Vertraute und Freunde zu Gesicht bekommen. Den privaten Räumen verleiht Seidl allerdings durch die Inszenierung ästhetische wie inhaltliche Bedeutung. Die Geschmacklosigkeit der Einrichtungen rückt er genauso in den Fokus wie die Leute selbst, die er meist im Zentrum klarer Symmetrien ausstellt. Dadurch erzeugt Seidl eine Künstlichkeit, die weit entfernt ist von authentischer, alltäglicher Beobachtung.

Schöner als Reality-TV

Die Kamera bleibt auf Abstand, manche Einstellungen, in denen sich nichts tut, sind von quälender Länge. In solchen Momenten entfalten die Bilder eine besondere Kraft, gleichzeitig möchte man aufspringen und die Porträtierten aus dem Rahmen zerren. Die Position des Voyeurs, in die Seidl das Publikum durch solche Verfahrensweisen zwangsläufig bringt, ist nicht immer angenehm. Wie in einer Geisterbahn begegnet man diesen Jedermännern und -frauen mit ihren merkwürdigen Ticks und Obsessionen, runzelt irritiert die Stirn oder bricht in überfordertes Gelächter aus.

Einerseits führt Seidl diese Menschen vor, andererseits gibt er ihnen eine Bühne, auf der sie sich ihrem Selbstbild entsprechend profilieren können. Wie es etwa der kleine junge Mann mit Schmerbäuchlein, Brille und Ledertanga tut, der stolz über seinen abnormalen Samenstrahl spricht, mit dem er schon zahlreiche Damen beglückt habe. Wer über ihn lacht, lacht auch über die eigenen Unzulänglichkeiten. Auf diese Weise rückt Seidl uns in die Nähe dieser Freaks und relativiert damit die vermeintliche Überlegenheit des Zuschauers.

Erfunden oder wahr?

Schrecklich-schöner als Reality-TV

Das Spiel mit der Haltung des Publikums und dem Verständnis von dokumentierter Realität und inszenierter Fiktion ist ein typisches Merkmal aller Arbeiten Seidls. Die rein erfundenen Geschichten der „Paradies“-Trilogie wirken wie aus dem Leben gegriffen, obwohl oder gerade weil sie so extrem sind.

Aber Seidls stilisierter Blick nutzt sich beim Projekt „Im Keller“ irgendwann ab. Der Film fördert letztendlich keine abgründigen, außergewöhnlichen Beobachtungen der österreichischen Mentalität zu Tage, sondern bloß die verschrobenen Freizeitbeschäftigungen beinahe normaler Zeitgenossen. Ein bisschen erinnert das an Realityshows im Nachtprogramm der Privatsender. Aber schrecklich schöner ist „Im Keller“ allemal.

Im Keller. Österreich 2014. Regie: Ulrich Seidl. Dokumentarfilm. 81 Minuten. Ab 16 Jahren.