Nach der Freilassung der Militärbeobachter brechen im Osten und Süden des Landes bürgerkriegsähnliche Zustände aus. Odessa wird zum Zentrum der Zusammenstöße zwischen prorussischen und proukrainischen Kräften.

Ukraine - Nach der Brandkatastrophe in der Hafenstadt Odessa mit mehr als 40 Toten sind die Unruhen im Osten und Süden der Ukraine ungezügelt weitergegangen. Die Lage in diesen Teilen des Landes ist unruhig und unübersichtlich. In verschiedenen Orten kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit prorussischen Gruppen und Separatisten.

 

Dabei entwickelt sich Odessa zu einem weiterem Zentrum der Gewalt. Eine mit Knüppeln bewaffnete Menge stürmte am Sonntag den örtlichen Sitz der Miliz, um moskautreue Gesinnungsgenossen zu befreien. Spezialeinheiten drängten die Angreifer laut örtlichen Medienberichten zunächst zurück. Unter dem Druck der Demonstranten habe die Polizei später zahlreiche Gefangene freigelassen, die nach den jüngsten Unruhen festgenommen worden waren. Augenzeugen sprachen von etwa 30 Menschen.

Unterdessen setzte das Innenministerium seinen „Antiterroreinsatz“ durch die Armee in den Städten Slawjansk und Kramatorsk fort, den die Übergangsregierung in Kiew am 2. Mai begonnen hatte. Slawjansk soll eingekesselt, die Besatzer sollen festgenommen werden; wann es dazu kommt, ist noch nicht absehbar. In Kramatorsk kam es am Samstag zu schweren Auseinandersetzungen der Armee mit Aufständischen. Dabei gab es der ukrainischen Regierung zufolge sechs Tote. Im Stadtzentrum brannten mehrere Fahrzeuge ab, die Rebellen angezündet hatten. Mehrere öffentliche Gebäude wurden besetzt, waren am Sonntag aber teilweise wieder geräumt. Der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine, Andrij Parubij, kündigte eine Erweiterung des Militäreinsatzes auf andere Städte an. „Die aktive Phase der Operation wird andauern“, sagte er.

In Mariupol „herrscht die nackte Anarchie“

In der südukrainischen Stadt Mariupol hatten Rebellen am Samstagabend Feuer in der Innenstadt gelegt, Reifen und Fahrzeuge wurden angezündet. Zudem wurde ein Bezirksbüro der Bank „Privat“ angezündet, das Gebäude brannte komplett aus. Die Bank gehört zur Firmengruppe Igor Kolomojskijs, Gouverneur von Dnipropetrowsk. Auch ein Parteibüro der Regierungspartei ist in Mariupol verwüstet worden. Banken, Juweliere, Autohändler und Pelzläden wurden geplündert. „Es herrscht die nackte Anarchie“, schreibt die Tageszeitung „Segodna“. Offenbar wird die unsichere Lage auch von Kriminellen genutzt.

In weiten Teilen der Regionen Donezk und Lugansk scheint die Polizei die Lage nicht mehr unter Kontrolle zu haben. In Lugansk stürmte am Samstagabend eine Gruppe Bewaffneter eine Rekrutierungsstelle für Wehrpflichtige und nahm Geiseln. In der Stadt wurde auch ein Studentenwohnheim von Separatisten besetzt. Die Studierenden sind derzeit in den Ferien; das leere Gebäude wurde widerstandslos beschlagnahmt, derzeit verhandelt die Hochschulleitung mit den Besatzern. In Kramatorsk fahren öffentliche Verkehrsmittel seit Tagen nicht mehr. Einer der größten Arbeitgeber der Stadt, die NKMZ Maschinenbau, hat seine rund 16 000 Mitarbeiter aufgefordert, zur Arbeit zu erscheinen. In Jenakijewo wurde ein Stahlwerk besetzt, das zur Metinvest-Gruppe des Multimilliardärs Rinat Achmetow gehört. Bilder zeigen, wie Maskierte Fenster und Türen einschlagen. Auf den Aufnahmen ist auch ein Team des russischen TV-Senders NTV zu sehen. Etwa 300 Demonstranten skandierten: „Odessa war nicht umsonst, wir rächen die Verräter.“ Aus Lautsprechern schallten russische Militärlieder und sowjetische Märsche.

Regierungschef Jazenjuk fordert Aufklärung

„Wir werden unsere Probleme nur gemeinsam lösen können, deshalb müssen wir den Dialog suchen und die Einheit der Ukraine bewahren“, betonte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk, der am Sonntag nach Odessa gereist war. „Die jüngsten Entwicklungen in Odessa sind nicht nur für die Stadt, sondern für die gesamte Ukraine eine Tragödie“, sagte der Regierungschef. Diese seien von prorussischen Demonstranten „wesentlich provoziert“ worden. „Wir werden alle Anstifter und alle Organisatoren finden“, sagte er. „Dutzende Tote sind das Resultat eines gut vorbereiteten und organisierten Angriffs auf das Volk, auf die Ukraine und auf Odessa.“ Jazenjuk befand auch, dass die örtliche Polizei viel früher hätte einschreiten müssen. Deren Führungsriege wurde am Wochenende entlassen. Warum sich die Sicherheitsorgane derart passiv verhalten haben, müsse aufgeklärt werden, forderte Jazenjuk.An dem Versuch, das Polizeigebäude in Odessa am Sonntagnachmittag zu stürmen, sollen etwa 150 Menschen beteiligt gewesen sein. Offenbar wollten sie auch die Befragung einiger Polizisten verhindern, die am Freitag tatenlos zugesehen hatten, wie das Gewerkschaftshaus angezündet wurde. Am späten Abend wurden die Zufahrten zur Polizei von Demonstranten blockiert, immer mehr Menschen kamen zusammen, die Stimmung war explosiv. Als ein Polizist, der am Freitag nicht eingegriffen hatte, freigelassen wurde, brachen die Menschen vor der Polizeistation in Jubel aus, trugen den Mann auf Schultern davon. Auf dem Platz vor dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus kam es erneut zu schweren Auseinandersetzungen. Einige Männer hatten eine russische Fahne an das Gebäude angebracht, proukrainische Protestler wollten die Flagge entfernen. Dabei wurden mehrere Menschen teilweise schwer verletzt.

Der Sturm auf das Polizeigebäude in Odessa

Trotz oder gerade wegen der unsicheren Lage werben die Präsidentschaftskandidaten darum, den Wahltermin am 25. Mai auf keinen Fall infrage zu stellen. „Putin will uns alle verunsichern, er will keine freien und fairen Wahlen in der Ukraine“, sagte die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Auch Petro Poroschenko rief seine Anhänger im westukrainischen Czernowitz zur Einigkeit auf: „Lasst uns zusammenhalten, Demokraten müssen nun Farbe bekennen.“ Ein weiterer Kandidat, der frühere Verteidigungsminister Anatoli Gritsenko ließ sich in Camouflage und mit Sturmgewehr ablichten und forderte: „Stoppt Putin, er plant einen Krieg gegen die gesamte zivilisierte Welt, das werden wir nicht zulassen.“