Nicht erst seit den Terroranschlägen von Paris fragen sich viele Menschen, woher diese extreme Gewalt rührt. Ein Psychologe aus Konstanz hat Antworten – doch sie sind zutiefst verstörend.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Konstanz - Die Gewalt hat sich unseres Denkens bemächtigt. Sie trägt das Antlitz jener Männer, die die Magazine ihre Kalaschnikows in die Körper von Unschuldigen entleeren. Sie blickt den Soldaten über die Schulter, die Bomben auf markierte Ziele lenken, sie grölt auf Demonstrationen Hass-Parolen und drückt Schwächere auf dem Schulhof an die Wand. Terror, Mord, Prügel, Demütigung: das Licht der Aufklärung flackert trübe.

 

Wer nach dem Warum fragt, kann sich die Antworten aussuchen: Religion, Politik, Armut, Männlichkeitskult. Sie weisen ins Allgemeine, weg vom Täter und seinem Wesen. Doch die Gewalt ist dem Menschen eigen, sagt Thomas Elbert, Professor für Klinische Psychologie an der Universität Konstanz. Elbert hat sie getroffen, die Mörder, Vergewaltiger, Kindersoldaten, die Täter und die Opfer. Er hat öfter ins Herz der Finsternis geblickt, als es einem normalen Menschen gut tut. Anzumerken ist ihm das nicht. Der gebürtige Allgäuer denkt nicht in Kategorien von Schuld und Erlösung, sondern forscht nach Ursache und Wirkung. Aus seinem hellen Büro auf der Reichenau blickt er in eine Idylle. Im fernen Winternebel ahnt man den Bodensee.

Dem Menschen fehlt die Tötungshemmung

Elbert ist Spezialist für Traumaforschung. Er betrieb Feldstudien in Konfliktgebieten wie Afghanistan, Kongo, Ruanda, Somalia, Sri Lanka und Uganda. Sein Ziel: Therapien für die Opfer extremer Gewalt zu entwickeln und vor Ort einzusetzen. Doch wer die Folgen der Gewalt behandelt, muss ihre Ursachen kennen. In Zeiten, wo Mörder die Enthauptung ihrer Opfer filmen, ohne mit der Kamera zu zittern, liegt es nahe, jemanden wie Elbert zu konsultieren. Im Moment steht die Religion als Ursache der Gewalt hoch im Kurs. Elbert hat da seine Zweifel: „Im Ostkongo, wo ich oft war, gab es keine verbindliche Religion, die Massen hinter sich hätte scharen können. Das Sendungsbewusstsein der Islamisten ist den Rebellen dort fremd.“ Die Lust am Töten und Verstümmeln aber nicht.

Was braucht es also, um Exzesse der Gewalt auszulösen? Wissenschaftlich betrachtet, fehlt dem Menschen die Tötungshemmung. Im Gegensatz zu Tieren bringt er seine Artgenossen um – aus reiner Lust daran. „Der Mensch versucht, das Tötungsverbot über moralische Systeme zu etablieren.“ Jede Kultur, sagt Elbert, versuche drei Dinge zu regeln: Sex, Drogen und Gewalt. Gefährlich werde es, wenn eine Religion oder Ideologie dieses Regelwerk so auslegt, dass organisierte Gewalt gegen eine bestimmte Opfergruppe möglich wird. Jemand kommt und sagt: Du darfst das!

Zu Gräueltaten sind wir alle fähig

Vom Tötungsverbot befreit, setzt beim Menschen ein Mechanismus ein, den Elbert oft vorgefunden hat. Gewalt wird vermeintlich reaktiv angewendet. „Es heißt, wir müssen uns verteidigen.“ Das Prinzip der In-Group und der Out-Group kommt zum Tragen. „Die In- Group, das sind wir: meine Familie, Sippe, mein Volk“. Die Out-Group, das sind die anderen: Feinde, Verbrecher, Ungeziefer. Auf die Freigabe des Mordens folgt der Moment der ersten Tötung. Keiner der von Elbert befragten Mörder hat ihn je vergessen. „Fast immer haben uns die meist jugendlichen Täter erzählt, dass es ihnen tagelang schlecht ging, nachdem sie einen Menschen getötet hatten.“ Viele mussten sich übergeben. „Beim zweiten Mal ging es besser. Beim dritten Mal verspürten sie ein Hochgefühl.“

Eine unbehagliche Diagnose, die den Zuhörer nach Abgrenzung suchen lässt: Islamisten, Rebellen, Kindersoldaten, Kriminelle – aber doch nicht wir! Elbert lächelt freundlich und erzählt von einem Versuch an seinem Institut. „Wir haben Studenten an Egoshooter-Spiele gesetzt.“ Computerspiele also, bei denen der Mensch bewaffnet durch ein Kampfgebiet streift und alles niedermäht, was sich ihm in den Weg stellt. „Dabei können Sie sogar die Menge des Bluts erhöhen, das bei einem Treffer spritzt. Raten Sie mal, was die Studenten gemacht haben?“ Man beginnt zu verstehen.

Ein Mord kann Euphorie auslösen

Elberts Erkenntnisse fußen auf strukturierten Interviews, unter anderem mit kongolesischen und ruandischen Milizionären. „Wir haben nach den Quellen der Lust am Töten gefragt.“ Etwa: müssen die Opfer zur Luststeigerung der Täter schreien? Ja, sie müssen. Müssen sie bluten? Ja, das ist gut. War es nötig, die toten Kinder an einer Wäscheleine aufzuhängen? Ja, war es. Was bedeutet dir deine Waffe? Sie ist meine Lady. Du weißt aber, dass du nicht töten darfst? Ja, weiß ich. – Lust gewinnt gegen Hemmung. Die Wissenschaft spricht von einem appetitiven Gefühl. Man hat es einmal erlebt und will immer mehr. „Wie beim Sex.“

Dieses Gefühl ist dem Menschen eigen, seit er vom Vegetarier zum Jäger wurde. „Die Biologie hat das begleitet, indem sie während der Tötung der Beute Opiate ausschüttet, um die Entbehrungen der Jagd vergessen zu machen.“ Dieses Hochgefühl kennen Extremsportler und Soldaten, weshalb Forscher vom „Runners High“ oder vom „Combat High“ sprechen. Den Tätern hat sich das euphorische Gefühl unauslöschlich eingeprägt, was Demobilisierung und Resozialisierung schwierig macht. Wobei Elbert und sein Team die verstörende Erfahrung gemacht haben, dass diejenigen, die am grausamsten gemordet haben, ihre Taten am besten verarbeiten konnten.

Die Vergewaltigung wird zum Ritual

Die Mörder sind meist jung. Die Kommandeure rekrutieren ihre Gefolgsleute aus der Gruppe der Zwölf- bis Siebzehnjährigen. „Aus der Missbrauchsforschung wissen wir, dass Kinder, die früh extremem Stress ausgesetzt sind, später zur Aggressivität neigen. Kinder in diesem Zustand dazu zu bringen, jemanden zu töten, ist gar nicht so schwer. Und aus Sicht der Warlords ist es ideal, wenn ein Jugendlicher ein Familienmitglied erschießt.“ Denn damit sind alle Wurzeln zur vorherigen Existenz gekappt.

Der Rest geht fast von selbst. Dreck, Hunger, Todesgefahr: diese Stressfaktoren entladen sich zyklisch auch in der Gewalt gegen Zivilisten. Hier bietet sich noch die willkommene Möglichkeit, sexuelle Gewalt auszuüben. „Vergewaltigung gab es in allen Kriegen“, sagt Elbert. „Allerdings haben unsere Befragungen erbracht, dass sie selten auf Befehl von oben verübt wurden.“ Meist hätten sich die Täter selbst für den Kampf „belohnt“. In Form des „Gang rape“, der Gruppenvergewaltigung, wird daraus sexueller Terror. Einer beginnt, die anderen schauen zu. „Mir hat ein Beteiligter erzählt, dass er als Fünfter in der Reihe eigentlich keine Lust hatte.“ Das Blut, das Wimmern, es ekelte ihn an. Er will aber nicht als Versager gelten. „Also nimmt er ein Hilfsmittel. Machete, Stock, Gewehr.“ Das Grauen wird zum Schauspiel und drückt die totale Verfügbarkeit des fremden Körpers aus. Und, man will es kaum denken, der Kadaver des Feindes wird zur Nahrungsquelle. „Rund zehn Prozent der Rebellen im Kongo essen ihre Opfer. Die Leiche als Proteinquelle. „Ich habe einen der Kämpfer gefragt, ob er auch schon mal weißes Fleisch gekostet hat. Er verneinte grinsend und meinte: weißes Fleisch – das bedeutet Kampfhubschrauber.“

Blut muss fließen – als Symbol

Dergleichen ist aus dem Terrorfeldzug des Islamischen Staates bisher nicht publik geworden. Doch die IS-Terroristen kennen die Bedeutung der Symbole. Der Akt, dem Gegner die Kehle durchzuschneiden, hat eine klare psychologische Bedeutung. Blut muss fließen, Blut ist ein biologisches Signal der Gewalt und der Verlockung. Dem Westen fehlt im Rennen um machtvoll-grausame Bilder ein vergleichbares Symbol. Die Drohne ist nicht konkurrenzfähig.

Müssen wir uns also mit der Gewalt in all ihren Abscheulichkeiten abfinden? Elbert: „Unser basales Gedankensystem, demzufolge die Menschheit stetig nach dem Guten strebt, ist falsch. Die Stabilität unserer Zivilisation ist brüchig. Umso mehr müssen wir sie verteidigen.“ Und die Liebe, wo bleibt die Liebe in all dem Grauen? „Natürlich liebt der Mensch, aber er liebt nicht alle Menschen. Das tue ich ja auch nicht.“ Er liebe diejenigen, die zu seiner In-Group gehören. Die anderen aber  . . .

Seine Forschungen haben Thomas Elbert nicht zum Zyniker gemacht. Eher zum Skeptiker. „Ich habe vor Jahren mit einem Rebellen im Kongo gesprochen, der ein Baby in einem Getreidemörser zerquetscht hat.“ Elbert geriet damals außer Fassung und beschimpfte den Mann. „Das würde ich heute nicht mehr machen.“ Er sehe die Täter heute auch als Opfer. „Doch ich weiß: die Lust am Töten verliert niemand, der sie einmal gespürt und erlebt hat.“