Ein internationales Team hat anhand von Fossilien einen riesigen Urzeitwal rekonstruiert – möglicherweise das schwerste Tier aller Zeiten. Der Fund verändert das Verständnis der Evolution der Wale, wie die Forscher im Fachjournal „Nature“ schreiben.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Beim Blick auf die gewaltigen Wirbelknochen von Perucetus colossuswird schnell klar, dass es sich dabei um ein ziemlich großes Tier gehandelt haben muss. Jeder einzelne der Wirbel, die in der Wüste an der peruanischen Südküste ausgegraben wurden, wiegt weit mehr als 100 Kilogramm. Anhand der Knochenfunde hat ein internationales Wissenschaftlerteam um Eli Amson vom Naturkundemuseum Stuttgart rekonstruiert, wie der ausgestorbene Urzeitwal vermutlich ausgesehen hat.

 

Das gesamte Tier könnte den Angaben der Forschenden zufolge zwischen 85 und 340 Tonnen gewogen haben. Das Team orientierte sich bei seinen Berechnungen an der Dichte der gefundenen Knochen und dem Verhältnis zwischen Knochen und weichem Körpergewebe bei heute lebenden Meeressäugetieren. Aus den damit verbundenen Unsicherheiten ergibt sich die relativ große Bandbreite bei den Gewichtsangaben.

Zudem habe man nur ein einziges Exemplar des Urzeitwals gefunden, der vor rund 39 Millionen Jahren lebte, berichtet Amson. Es sei gut möglich, dass es auch noch größere und schwerere Individuen gegeben habe. „Die 85 Tonnen sind eine sehr vorsichtige Schätzung“, sagt der Paläontologe. Es gebe gute Gründe, um anzunehmen, dass Perucetus colossus schwerer als heutige Blauwale war, die zwischen 50 und 200 Tonnen auf die Waage bringen. In der Pressemitteilung wird der Meeressäuger zurückhaltend als „Anwärter auf das schwerste Tier aller Zeiten“ bezeichnet.

Enorme Knochendichte

Bemerkenswert ist aus Sicht der Forschenden die hohe Knochendichte des „kolossalen Wals aus Peru“ – so die wörtliche Übersetzung der Bezeichnung der ausgestorbenen Art, die im renommierten Wissenschaftsjournal „Nature“ erstmals beschrieben wird. So dürfte das gesamte, rund 20 Meter lange Skelett des gefundenen Tiers zwischen fünf und acht Tonnen gewogen haben. Damit wäre es zwei bis dreimal so schwer wie das 25 Meter lange Skelett eines Blauwals im Londoner Natural History Museum.

Laut Amson verändert der Fund das Verständnis der Walevolution: „Für uns ist eines der entscheidenden Ergebnisse unserer Arbeit, dass sich der Übergang zu echtem Gigantismus bei Walen sich viel früher in der Erdgeschichte entwickelte, als wir bisher dachten“, so Amson. Bislang sei man davon ausgegangen, dass die ersten Riesenwale vor etwa zehn Millionen Jahren auftraten.

Nun könne man diese Phase rund 30 Millionen Jahre früher ansetzen. Demnach schwammen die gewaltigen Verwandten der heutigen Wale, Delfine und Schweinswale bereits vor 39 Millionen Jahren durch küstennahe Gewässer. Doch warum hatten die Tiere so schwere Knochen? Bekanntlich haben sich die Meeressäuger im Lauf der Evolution aus Landtieren entwickelt, die sich nach und nach an das Leben im Wasser angepasst haben und sich zunächst in flachen Küstengewässern aufhielten. Um sich unter Wasser halten zu können, mussten sie den Auftrieb kompensieren, der von ihren luftgefüllten Lungen erzeugt wurde. Ebendiese Aufgabe erfüllten die besonders schweren Knochen, die Amson mit den Bleigürteln vergleicht, die Taucher in die Tiefe ziehen.

Erste Funde vor zehn Jahren

Bei modernen Walen wie den heutigen Blauwalen sei das anders, erläutert der Stuttgarter Wissenschaftler. Ihre Knochen seien im Gegensatz zu den frühen Riesenwalen viel leichter. Sie dringen in viel größere Wassertiefen vor. Dabei werden ihre Lungen durch den enormen Wasserdruck so stark zusammengedrückt, dass kaum noch Luft übrig bleibt, die für Auftrieb sorgen könnte. Daher brauchen sie auch keinen zusätzlichen Ballast in Form schwerer Knochen.

Das hohe Gewicht des urzeitlichen Riesenwals kommt nach Angaben der Forschenden auf zwei Wegen zustande: Zum einen über eine höhere Knochendichte, zum anderen durch die Anlagerung zusätzlicher Knochenmasse an den einzelnen Skelettteilen.

Bereits vor zehn Jahren hatte der peruanische Paläontologe Mario Urbina, einer der Co-Autoren des „Nature“-Beitrags, in der Wüste Perus die ersten Wirbelknochen von Perucetus colossus entdeckt. Allerdings hätten dort sehr schwierige Arbeitsbedingungen geherrscht, berichtet Amson. Deshalb hätten sich die Ausgrabungen über mehrere Jahre hingezogen. Die geborgenen Walknochen – darunter mehrere vollständig oder teilweise erhaltene Wirbelkörper und 1,4 Meter lange Rippenknochen – wurden exakt vermessen, um ihr Volumen zu ermitteln. Die Knochendichte wurde mithilfe von Kernbohrungen bestimmt. Auf Basis dieser Daten konnten sich die Forscher an die Rekonstruktion des Riesenwals machen.

Crowdfunding fürs Museum

Die Knochen von Perucetus colossus sollen im Naturkundemuseum der peruanischen Hauptstadt Lima ausgestellt werden. Um das Museum bei der Aufbereitung und Konservierung der Fossilien zu unterstützen, haben Forschende eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Der Entdecker Mario Urbina will gemeinsam mit Kollegen die Grabungen in der peruanischen Wüste fortsetzen. Gut möglich, dass dort weitere bedeutende Fossilien im Boden liegen.