Der Kleinstaat auf dem Balkan rechnet bei der Volkszählung mit satten Bevölkerungszuwächsen. Die Neu-Montenegriner nutzen das Land als Zufluchtsort.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe: Ausgerechnet vor Weihnachten ruft Montenegros Statistikamt Monstat auch die weniger bibelfesten Einwohner des Adriastaats zur Teilnahme an der mehrmals verschobenen Volkszählung auf. 3000 Helfer und Helferinnen sind in diesen Adventstagen unterwegs, um die bisher offiziell 620 000 Seelen des EU-Anwärters neu zu zählen.

 

„Die Grundlage für eine bessere Zukunft fußt auf genauen Daten“, mahnt Monstat die Skeptiker zur Preisgabe der Daten. Denn das Zählen im Küstenstaat wurde im Vorfeld von Boykottdrohungen der Opposition sowie starken Druck aus dem benachbarten Serbien überschattet.

Serben oder Montenegriner?

Je mehr gezählte Personen, desto mehr Einfluss im Vielvölkerstaat. Hart umkämpft war im Land der Schwarzen Berge bereits das Unabhängigkeitsreferendum von 2006 über die Loslösung von dem 2003 aus dem früheren Jugoslawien hervorgegangen Staatenbund Serbien und Montenegro. Die Zerrissenheit des Staatenneulings spiegelte auch dessen erster Zensus 2011 wider: Rund 43 Prozent der Befragten bezeichneten sich damals als montenegrinisch und 29 Prozent als serbisch. Der Rest bekannte sich zu kleineren nationalen Minderheiten wie Bosniaken, Albanern oder Kroaten.

Nicht nur die in Montenegro noch immer sehr einflussreiche Serbisch-Orthodoxe Kirche hat vor dem Zensus ihre Gläubigen dazu aufgefordert, sich zur serbischen Nation zu bekennen. Auch die Machthaber in Belgrad schlugen zur Empörung bekennender Montenegriner die Werbetrommel: Selbst das Lockangebot, umsonst in Serbien studieren zu können, sollte Zweifler vom Bekenntnis zum Serbentum überzeugen.

Die Opposition warf der Regierung wiederum vor, zu stark unter serbischen Einfluss zu geraten und rief zeitweise gar zum Boykott der Volkszählung auf. Mehr noch als das politisch motivierte Tauziehen um den Zensus elektrisiert die Demografen jedoch die erwartete Bestätigung eines scheinbar widersprüchlichen Trends. Trotz anhaltender Emigration in den Westen wird in Podgorica mit satten Zuwächsen gerechnet. Von 620 000 könnte Montenegros offizielle Einwohnerzahl auf über 700 000 steigen.

Zuflucht für Russen und Ukrainer

Es sind Europas Krisen und Kriege, die dem Kleinstaat neue Bürger bescheren. Allein nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei 2016 sollen sich rund 16 000 Türken im Adriastaat niedergelassen haben. Für einen noch stärkeren Schub sorgte der russische Überfall auf die Ukraine: Auf jeweils mehrere zehntausend wird die Zahl der Russen und der Ukrainer geschätzt, die seit Kriegsbeginn ihr einstiges Feriendomizil zu ihrem Hauptwohnsitz gemacht haben.