Messerangriffe und versuchter Mord: Gewaltvorfälle an Schulen sorgen für Bestürzung. Manche Schulen brauchen die Hilfe eines Sicherheitsdienstes. Stimmt es, dass die Jugend immer gewalttätiger wird? Ein Faktencheck.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Schläge, Tritte, sexuelle Übergriffe: Aus Schulen in Deutschland werden mehr Fälle von Gewalt bekannt. Den Landeskriminalämtern und Bildungsministerien wurden Tausende solcher Vorfälle gemeldet.

 

Ein aktueller Fall aus Berlin

Ein Vorfall in jüngster Zeit war an einer Schule nahe Berlin: Ein 22-Jähriger dringt mit einem Messer und einer Schreckschusspistole vor Unterrichtsbeginn in das Gebäude in Petershagen ein. Eine Beschäftigte löst Amokalarm aus, der Mann wird festgenommen. Im Februar wurden an einem Gymnasium in Wuppertal vier Schüler mit einem Messer angegriffen. Ein 17-Jähriger sitzt deshalb wegen des Verdachts des versuchten Mordes in Untersuchungshaft.

Bundesländer: Bilanz der Gewalttaten

Zwei Schüler prügeln sich auf dem Schulhof in Leichlingen (NRW). Foto: dpa/Oliver Berg

Gleich in mehreren Bundesländern ist die Zahl erfasster Gewaltdelikte im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Pandemie gestiegen – mitunter deutlich.

  • Nordrhein-Westfalen: Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen gab es demnach 2022 rund 5400 Gewaltdelikte. Neuere Zahlen liegen den Ländern zumeist noch nicht vor. In den vergangenen Wochen kam es wiederholt zu größeren Polizei-Einsätzen an Schulen. Vergleicht man zum Beispiel in der Statistik des Landesinnenministeriums in Nordrhein-Westfalen die Jahre 2019 und 2022, so ergibt sich ein Anstieg der Fälle um mehr als die Hälfte, auch wenn die Zahl der Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sowie an Schulen des Gesundheitswesens nur um etwa ein Prozent stieg (zwischen Schuljahr 2019/20 und 2022/23).
  • Baden-Württemberg: Im Südwesten gab es dem Landesinnenministerium zufolge 2243 Gewaltfälle.
  • Sachsen: In Sachsen waren es insgesamt 1976 Vorkommnisse.
Polizisten stehen am 6. Juli 2023 in Schweinfurt vor einer Schule. Foto: dpa/Matthias Merz
  • Bayern: Dort sind es 1674 Fälle vorsätzlicher leichter Körperverletzung gewesen.
  • Brandenburg: Hier sprach die Polizei von 910 sogenannten Rohheitsdelikte. In allen vier Ländern stieg die Zahl.
Polizei steht am 28. Juni 2023 nach mehreren Notrufen vor einer Schule in Berlin Kreuzberg. Foto: dpa/Christophe Gateau
  • Berlin: In der Bundeshauptstadt gibt es an jedem Schultag im Durchschnitt mindestens fünf Polizei-Einsätze. 2022 waren es laut Polizei 2344 Fälle von Körperverletzung. Für 2023 sei eine „erneute deutliche Steigerung der Fallzahlen“ zu verzeichnen. Interessant dabei ist: Solche Vorfälle werden fast nie von den Schulen oder der Polizei der Öffentlichkeit und den Medien mitgeteilt.
  • Thüringen: Dort sprach das Bildungsministerium in Erfurt von 561 Körperverletzungen im vergangenen Jahr (2022: 321).
Polizeiautos und ein Krankenwagen stehen am2. Dezember 2023 nahe einer Schule. Vor den Augen ihrer Mitschüler hatte eine Jugendliche ein anderes Mädchen in einer Grund- und Hauptschule in Cuxhaven mit einem Messer schwer verletzt. Foto: Nord-West-Media TV/Kai Moorschlatt
  • Niedersachsen: In dem Bundesland stieg die Zahl der Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit von 2022 um rund 520 Fälle auf 2680 im Jahr 2023. In die Kategorie fallen Taten wie Raub, Bedrohung und Körperverletzungen.

Nur wenige Fälle von Mord und Totschlag

Trotz vieler Polizei-Einsätze kommen Fälle wie der tödliche Messerangriff auf eine Schülerin nahe Heidelberg in den Statistiken selten vor. Dort wird ein 18-Jähriger beschuldigt, im Januar an einem Gymnasium in St. Leon-Rot auf die Gleichaltrige eingestochen zu haben.

In Thüringen wurde laut Bildungsministerium im vergangenen Jahr fünfmal eine Waffe eingesetzt – ebenso oft wurden Softair-Waffen oder waffenähnliche Gegenstände gebraucht – mehr als 2022. Foto: dpa//Marijan Murat
  • Niedersachsen: Zahlen zu den Verletzten schwanken je nach Größe der Bundesländer. In Niedersachsen kletterte die Gesamtzahl der Opfer im Schulkontext von rund 2630 im Jahr 2022 auf etwa 3270 im Jahr 2023.
  • Schleswig-Holstein: Dort sind vor zwei Jahren 255 Schüler und Schülerinnen als Opfer von Vorfällen gemeldet worden – mehr als 2019. In den Jahren 2020 und 2021 waren Schulen wegen der Corona-Pandemie über längere Zeit geschlossen.
  • Sachsen: Kaum Auskunft geben die Landesstatistiken, ob Polizisten zum Beispiel Waffen sichergestellt haben. In Sachsen sind es 2022 insgesamt 15 Waffen gewesen, 42 Messer, 43 Steine und 19 Mal Pyrotechnik. In vielen Fällen seien auch Feuerzeuge eingesetzt worden.
  • Thüringen: In Thüringen wurde laut Bildungsministerium im vergangenen Jahr fünfmal eine Waffe eingesetzt – ebenso oft wurden Softair-Waffen oder waffenähnliche Gegenstände gebraucht – mehr als 2022.

Vielzahl an Gründen für Gewalt und Verrohung

Die Gründe, dass Schüler Gewalt ausübten oder androhten, sind nach Einschätzung von Experten vielschichtig. Foto: dpa/Maurizio Gambarini

Die Gründe, dass Schüler Gewalt ausübten oder androhten, sind nach Einschätzung des Brandenburger Bildungsministeriums vielschichtig. Dazu zählten Faktoren wie „Defizite in der Selbststeuerung und geringes Selbstwertgefühl, aber auch familiäre und soziale Ursachen wie Gewalterfahrungen in der Familie oder Akzeptanz sowie soziale Normen und Werte und die jeweilige Akzeptanz in der Gruppe der Gleichaltrigen“.

Auch Gewaltinhalte in Medien und auf Online-Plattformen könnten aggressives Verhalten begünstigen.

Mehr Waffen in Schulen als früher

Nach Einschätzung des Allgemeinen Schulleitungsverbandes Deutschlands haben viele Lehrkräfte das Gefühl, dass die Bereitschaft zur Gewalt zugenommen hat. „Wir haben bemerkt, dass mehr Waffen zur Schule mitgenommen werden als früher“, sagt der Verbandsvorsitzende Sven Winkler.

Dabei handelt es sich vor allem um Messer und sogenannte Anscheinswaffen. Das sind Waffen, die echten Schusswaffen täuschend ähnlich sehen. Ob Kinder und Jugendliche Waffen dabeihaben, weil sie gewaltbereit sind, oder weil sie Angst haben und diese zur Selbstverteidigung nutzen wollten, sei unklar.

Sozialarbeiter und Sicherheitsdienste

Um Gewalt zu verhindern, versuchen ihm zufolge viele Schulen die Sozialarbeit auszubauen. Foto: dpa

Um Gewalt zu verhindern, versuchen ihm zufolge viele Schulen die Sozialarbeit auszubauen. Oft fehle es aber an Personal, Zeit und Geld. Oder Schulen setzen Sicherheitsdienste ein, wie eine Einrichtung in Bremerhaven.

Die Jugendlichen schlugen Fenster ein, bedrohten und beleidigten Schüler und Lehrkräfte. Dort kamen fast täglich schulfremde Personen auf das Schulgelände. Sie beschädigten Türen, entriegelten Feuerlöscher und verstopften Toiletten. „Die Lage im vergangenen Herbst war sehr unruhig“, berichtet eine Schulsprecherin. „Ich habe mich unsicher gefühlt.“ Mit den Wachleuten beruhigte sich die Lage wieder.

Info: Schüler in Deutschland

Statistik
Im aktuellen Schuljahr (2023/24) sind in Deutschland laut Statistischem Bundesamt rund 11,2 Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sowie an Schulen des Gesundheitswesens. Vor vier Jahren (2019/20) waren es etwa 10,9 Millionen.