Die Seidenstoffweberei Küderli, im Volksmund „Seidenbude“, war der größte Arbeitgeber in Waiblingen, doch über sie ist wenig Schriftliches erhalten. Eine Expertin will nun etwas Licht ins Dunkel bringen.

Was veranlasst einen Schweizer Industriellen dazu, in der württembergischen Kleinstadt Waiblingen ein Grundstück zu kaufen? Johann Heinrich Hitz aus dem Kanton Zürich hatte mehrere gute Gründe, wieso er 1860 für einige tausend Gulden das Gasthaus „Zum Wilden Mann“ samt Garten erstand: Er brauchte für seine Firma einen Ort, an dem es Platz, billige Arbeitskräfte, niedrige Zölle, die passende Infrastruktur und einen Absatzmarkt gab.

 

All diese Standortfaktoren fand der Chef einer schweizerischen Seidenstoffweberei in Waiblingen vor – weshalb er dort eine Handweberei für Seidenstoffe gründete, die später mechanisiert wurde. Deren Geschichte erforscht die Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Stefanie van de Kerkhof, wobei sich das Projekt als eine regelrechte Puzzlearbeit erwiesen hat. Denn obwohl die später unter dem Namen Mechanische Seidenstoffweberei Küderli firmierende Firma in der damals 7000-Einwohner-Stadt Waiblingen mehr als Tausend Arbeitsplätze bot, findet sich über ihre Geschichte wenig Schriftliches. „Das Quellenmaterial ist wirklich rar, es gibt nur sehr wenige Hinterlassenschaften“, so fasste es die Wissenschaftlerin bei einem sehr gut besuchten Vortragsabend des Heimatvereins Waiblingen zusammen.

Die Belegschaft war zu 98 Prozent weiblich

Ein Glück, dass es in Waiblingen noch Zeitzeugen gibt, die Informationen liefern können. Stefanie van de Kerkhof hat mit drei ehemaligen Mitarbeiterinnen aus der späten Phase Interviews geführt, um mehr über die Arbeit in der Weberei zu erfahren. Die Frauen erklärten der Historikerin etwa, welche Abteilung sich wo hinter der Fassade des gewaltigen Fabrikbaus befand – von der Schlosserei über die Lohnbüros bis zu den Räumen der Verwaltung. „Diese durften Beschäftigte der Weberei in der Regel nicht betreten“, sagt Stefanie van de Kerkhof. Die Führungsriege der Firma hätten die Mitarbeitenden selten zu sehen bekommen. Zunächst waren 98 Prozent der Belegschaft Frauen, Männer waren lange Zeit nur in Leitungspositionen zu finden.

Erst als in den 1950er-Jahren zu den zwei Schichten eine Nachtschicht hinzukam, wurden mehr Männer eingestellt. Dabei handelte es sich vorwiegend um Arbeitnehmer aus Italien und Griechenland. Während des Zweiten Weltkriegs mussten in der Weberei auch Zwangsarbeiter schuften, nach den Recherchen der Wissenschaftlerin stammten sie sowohl aus Osteuropa, etwa der Ukraine, wie aus dem Westen, zum Beispiel Belgien. „Wir wissen derzeit aber nicht, wie viele es waren und unter welchen Bedingungen sie leben und arbeiten mussten.“

Satin Cléopatre, Fleur de Mousse und andere Luxusstoffe

Die Arbeitsbedingungen in der Weberei waren nicht angenehm, geschafft wurde im Akkord. „Es war feucht, sehr laut und sehr schmutzig“, sagt Stefanie van de Kerkhof über die Weberei, die im Volksmund „Seidenbude“ hieß. Sie nimmt an, dass Frankreich ein wichtiger Absatzmarkt war. Darauf deuten die französischen Bezeichnungen der Stoffe hin, die in Musterbüchern aus der Zeit der 1890er-Jahre bis 1909 zu finden sind. Letztere stammen aus dem Fundus des Waiblinger Stadtmuseums, welches in seiner Dauerausstellung auch Lohnzettel und die Werksuhr aus den 1880ern präsentiert.

Während der Zeit des Kaiserreichs sei Schwarz die dominierende Farbe bei Kleidung gewesen, berichtet Stefanie van de Kerkhof, in einfarbige Stoffe wurden aber auch Muster eingewebt. Wer sich beispielsweise in „Satin Cléopatre“ hüllen wollte, wurde bei der Seidenweberei Küderli fündig. Seide war damals eine absolute Luxusware, die sich laut van de Kerkhof nur zwei bis drei Prozent der Gesellschaft leisten konnten. Mit dem Einzug des mechanischen Webstuhls um 1880 konnte die Weberei schneller, mehr und günstiger produzieren, und nach Erfindung der Kunstseide Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die schicke Kleidung für mehr Menschen erschwinglich. In einem Zweigwerk in Winterbach wurde an 29 Webstühlen Seidenplüsch hergestellt, von 1896 an fertigte die Firma bis in die 1960er-Jahre in Waiblingen auch Jacquardgewebe an.

Auf dem Werksgelände steht heute eine Wohnanlage

Die Musterbücher beweisen, dass die Waiblinger Seidenweberei schon im frühen 20. Jahrhundert erstaunlich farbenprächtige Stoffe mit sehr modernen Mustern herstellte. Karostoffe in klassischem Rot und Dunkelblau, aber auch in knalligem Türkis sind erhalten geblieben. Die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten synthetischen Farben, die in Waiblingen bereits um 1900 zum Einsatz kamen, sind auch nach mehr als 100 Jahren nicht verblasst. Kein Wunder, dass Stefanie van de Kerkhof angesichts dieser „Stoffe zum Staunen“ ins Schwärmen kommt. Die enorme Vielfalt an Mustern sei sicher das Ergebnis der Arbeit von Designern und Künstlern: „Aber noch wissen wir dazu nichts Genaues. Es wäre schön, wenn wir noch mehr Interviews machen könnten.“

Gegen Ende seien in Waiblingen auch technische Stoffe für Zelte und Rucksäcke produziert worden, berichtete ein Zuhörer. Das Ende kam in den Sechzigern, wenig später wurde das Fabrikgebäude platt gemacht und mit der Wohnanlage „Im Kern“ bebaut.

Der Filmclub Waiblingen zeigt am 21. Juli in der Remise auf der Waiblinger Erleninsel einen Film über die Mechanische Seidenstoffweberei.